Icarus
denen sein Körper still und friedlich war, und er konnte jetzt fast jede Nacht durchschlafen. Dennoch beherrschten die Schmerzen sein Leben, wie nichts anderes es jemals getan hatte. Er vollführte keine Bewegung, ohne sich ihrer in jedem Moment bewußt zu sein. Er hatte kaum einen Gedanken, der sich nicht in irgendeiner Weise direkt oder indirekt damit beschäftigte. Und vor allem fürchtete er die Schmerzen. Er hatte Angst davor, wie sehr sie ihn einengten. Angst davor, wie nachhaltig sie ihm das Gefühl vermittelten, sterblich zu sein.
Mittlerweile war der augenblickliche Schmerz so weit abgeklungen, daß er die Hand vorsichtig nach der Zeitung ausstrecken konnte, die auf dem Stuhl rechts von ihm lag. Es war für ihn eine viel einfachere Bewegung. Er ergriff sie, zögerte, wartete ab, wie schlimm die nächste Schmerzwoge wäre, fand sie nicht besonders schlimm und konzentrierte sich daher auf den Artikel, den er bereits auswendig kannte, womit er seine tägliche Routine fortsetzte.
Von der ersten Seite des The Charlottesville Constitution;
4. April:
ZUSAMMENHANG ZWISCHEN ÜBERFALL AUF RESTAURANT UND ZWEI WEITEREN MORDEN VERMUTET
Zwei männliche Leichen wurden während der vergangenen Nacht in einem Auto aufgefunden, und die Polizei ermittelt zur Zeit, ob eine Verbindung zur Ermordung von Caroline Keller in Jack’s Restaurant in der Downtown Mall am 1. April besteht. Beide Männer wurden jeweils einmal in den Hinterkopf geschossen. Beide Männer sollen sich am Abend der Ermordung von Mrs. Keller und der Schüsse auf ihren Ehemann, Jack Keller, im Restaurant eine Schlägerei geliefert haben.
Der Wagen wurde auf dem Parkplatz eines verlassenen Dunkin’-Dounuts-Restaurants am Highway 29 südlich von Danville, Virginia, von Ned Rodrigue gefunden. Mr. Rodrigue war gerade unterwegs nach Roanoke, das etwa 17 Meilen nördlich vom Fundort der Leichen entfernt ist. Aufgrund eines Unwohlseins suchte er den Parkplatz des Restaurants auf, das seit mehreren Monaten geschlossen ist. Um frische Luft zu schnappen, stieg er aus seinem Wagen. Nur ein weiteres Fahrzeug stand auf dem Parkplatz, und als Mr. Rodrigue daran vorbeiging, sah er jemanden am Lenkrad sitzen, von dem er zuerst annahm, daß er eingeschlafen sei. Erst bei näherem Hinschauen entdeckte Mr. Rodrigue einen zweiten Körper und benachrichtigte umgehend die Polizei.
Obgleich die Polizei sich weigert, die Namen der beiden To-ten bekanntzugeben, wissen wir aus zuverlässiger Quelle, daß der eine von ihnen vermutlich den Namen Raymond Kutchler trägt. Für den Eröffnungsabend von Jack’s Restaurant existiert eine Reservierung auf Mr. Kutchlers Namen, und man geht davon aus, daß er mit seinem Freund an dem festlichen Dinner teilgenommen hat. Im Laufe des Abends entwickelte sich zwischen Mr. Kutchler und seinem Freund eine Meinungsverschiedenheit, die sich zu einer handfesten Schlägerei ausweitete. Die Polizei nimmt an, daß Mr. und Mrs. Keller im Verlauf des daraus resultierenden Tumults überfallen wurden.
Augenzeugen bestätigen, daß die Handgreiflichkeiten zwischen Mr. Kutchler und seinem Bekannten äußerst heftig waren. Falls es sich bei den Toten wirklich um diese beiden Männer handelt, kann die Polizei sich nicht erklären, warum sie nach einem solchen Streit gemeinsam in einem Wagen gesessen haben. Überdies gibt es von offizieller Seite keine stichhaltigen Vermutungen hinsichtlich einer möglichen Verbindung zwischen diesen beiden Morden und dem Überfall auf die Inhaber des Restaurants.
Jack legte die Zeitung auf den Tisch rechts neben seine Kaffeetasse und nahm die dritte Zeitung vom Stuhl neben sich. Diese Meldung war eine Zusammenfassung der vorherigen beiden, wobei bisher unbekannte Tatsachen und sich daraus ergebende mögliche Schlußfolgerungen hinzugefügt worden waren. Und während er las, überkam ihn erneut und trotz seiner genauen Kenntnis der Einzelheiten ein Gefühl totaler Fassungslosigkeit, als nähme er die Informationen zum erstenmal in seinem Leben wahr.
Von der ersten Seite des The Charlottesville Constitution;
21. April:
POLIZEILICHE ERMITTLUNGEN ZU DEN RESTAURANTMORDEN FESTGEFAHREN
Das Rätsel, das den Tod von Caroline Keller und die Schüsse auf ihren Ehemann, Jack Keller, umgibt, wird zunehmend komplizierter. Anläßlich des Bekanntwerdens weiterer bizarrer Fakten gestand die Polizei heute ein, daß sie bisher keinerlei Verbindung zwischen den Personen, Orten oder Ereignissen hat feststellen können, die aussehen, als
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