Icarus
Gespenster.
Es gab so viele Unbekannte. Nur eins stand außer Frage: Viele Leben waren verändert, waren ruiniert, waren ausgelöscht worden.
Jack wollte nur noch einen Artikel lesen, ehe er hineinging. Er befand sich im Wirtschaftsteil der New York Times von diesem Tag. Er hatte ihn bereits einmal gelesen. Nach dem ersten Absatz folgte lediglich eine Zusammenfassung des Überfalls mit dem Hinweis, daß der Täter nicht ausfindig gemacht worden war, sowie eine kurze Information über Jacks augenblicklichen Gesundheitszustand. Er brauchte das Material nicht noch einmal zu lesen, der Times -Bericht war bei weitem nicht so detailliert oder genau wie der in den Lokalnachrichten der Zeitung aus Virginia. Aber er las die ersten Sätze noch einmal. Er wollte die harte Konfrontation mit der Wirklichkeit, die solche Worte ihm lieferten.
Von Seite D1 des Wirtschaftsteils der New York Times;
25. September
ÜBERNAHME VON JACK’S RESTAURANT ABGESCHLOSSEN
Leonard R. McGirk, einer der geschäftsführenden Vize-Präsidenten bei Restaurants United, gab heute bekannt, daß das in Texas ansässige Konsortium einen Vertrag unterzeichnete, welcher ihm Jack’s Restaurant mit sämtlichen Rechten übereignet. Die Verhandlungen liefen schon seit einiger Zeit, und die Bedingungen wurden, laut Mr. McGirk, vor zwei Monaten festgelegt. »Das Geschäft hätte schon zu Beginn des Jahres abgeschlossen sein können«, sagte Mr. McGirk, »allerdings hatten die Anwälte beider Parteien darauf gedrungen, jede strittige Frage vorab zu klären.« Mr. McGirk wies darauf hin, daß einer der Hauptpunkte der Vereinbarung, die beide Parteien wünschten, die Klärung der Frage war, in welcher Weise Jack Keller, der Gründer der Restaurantkette, in Zukunft als Berater eingesetzt werden kann. Keine der beiden Parteien äußerte sich zu den Kaufbedingungen, jedoch laufen die Schätzungen auf einen Kaufpreis von deutlich über 25 Millionen Dollar hinaus.
Das ursprüngliche Jack’s in Manhattan ist seit langem eine beliebte Adresse für Sportstars, Politiker und Prominente der Stadt. Während der letzten zwanzig Jahre hat Jack Keller seinem Restaurant zu so viel Erfolg und Prominenz verhelfen, daß sechs weitere Restaurants eröffnet werden konnten. Zur Zeit gibt es Jack’s in London, Paris, Los Angeles, Chicago, Miami und Charlottesville.
Das Restaurant in Charlottesville, das am ersten April des vergangenen Jahres seine Tore öffnete, war der Schauplatz eines Gewaltverbrechens, in dessen Verlauf Mr. Kellers Ehefrau Caroline getötet und Mr. Keller schwer …
Jack legte die Zeitung beiseite.
Übernahme von Jack’s Restaurant abgeschlossen.
Es war geschafft. Keine Chance mehr, einen Rückzieher zu machen. Der Mensch, den er am meisten geliebt hatte – Caroline –, war ermordet worden, und ihr Tod hatte bewirkt, daß er das Ding am meisten verabscheute, das er am meisten geliebt hatte – das Restaurant. Er konnte kein Jack’s mehr betreten, konnte es nicht ertragen, darüber zu reden, es machte ihn einfach zu traurig, auch nur daran zu denken. Also hatte er verkauft. Den gesamten Betrieb.
Dorn wollte es ihm ausreden. »Was willst du weiterhin tun ?« hatte er gefragt.
»Ich werde reich sein«, erwiderte Jack. »Ich tue, wozu ich gerade Lust habe.« Doch noch während er es aussprach, wußte er, daß es eine Lüge war. Es gab nichts mehr, was er tun wollte. Nichts, was ihm in irgendeiner Weise wichtig war. Seine Frau, sein Geschäft, sogar sein Körper … weg. Das einzige Leben, das er sich je gewünscht hatte … vernichtet.
Weg ist weg.
Durch den Nebel seines Bewußtseins erkannte Jack, daß Mattie wieder etwas zu ihm gesagt hatte.
»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte er. »Ich komme ja rein.« »Ich will Sie nicht drängen«, sagte sie zu ihm. »Sie sind ein erwachsener Mann. Ich wollte Ihnen nur Bescheid geben, daß jemand von unten angerufen hat. Für Sie ist Be
such auf dem Weg nach oben.«
»Wer?« fragte er, und seine Stimme drückte echte Überraschung aus. Jack kannte nicht viele Leute, die einfach vorbeikämen, um Hallo zu sagen.
»Sie werden sich freuen, ihn zu sehen, das ist alles, was ich verrate«, antwortete Mattie. »Und jetzt kommen Sie bitte herein, damit ich die verdammte Tür schließen kann und nicht auch noch selbst erfriere.«
Jack nickte, ließ die Hände seitlich herunterhängen. Während seine Fingerspitzen gegen kalte Stahlspeichen stießen, kam ihm der erstaunliche Gedanke, der sich an jedem Tag, den er seit
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