Icarus
hatte das Gefühl, daß es nichts gab, was Kid in irgendeiner Weise verletzen könnte.
Nun, etwas gab es schon.
Sie griff in ihre Handtasche und streichelte das Klappmesser, das unter der Packung Kaugummi und dem Kleingeld und dem Lippenstift lag. Sie liebte die Berührung, genoß, daß sie es besaß. Einer ihrer Ex-Freunde hatte es ihr vor einem Jahr geschenkt. Zum Schutz, hatte er gesagt. Alle spanischen Mädchen brauchen irgendwann einmal Schutz. Vor allem, wenn sie einen Körper wie du haben. Sie wollte es nicht, jedenfalls anfangs nicht, aber sie nahm es an. Das war einfacher, als eine Diskussion zu beginnen. Dann gefiel es ihr, daß sie es besaß. Und schließlich liebte sie es. Das Geräusch, das es von sich gab, wenn es aufschnappte. Seine schlanke Form. Die Tatsache, daß es einerseits so schön und andererseits so todbringend sein konnte. Bisher hatte sie es nie benutzen müssen, und irgendwie hoffte sie, daß es auch nie dazu kommen würde. Allerdings empfand sie auch etwas anderes. Etwas völlig anderes. Sie holte es jetzt aus der Handtasche, versteckte es unterm Tisch und drückte auf den Knopf, der die lange, schmale Klinge freigab. Ssssssst. Sie strich mit der Fingerkuppe über die glatte Oberfläche des kalten Stahls.
Das konnte ihm weh tun.
Jemand hatte das bereits getan, sie hatte gesehen, wie er den Verband abgenommen hatte, hatte den gezackten Schnitt gesehen. Warum könnte nicht auch sie das tun?
Während sie die Klinge streichelte, dachte sie: Die könnte ihn ganz schlimm verletzen.
Lächelnd klappte sie das Messer zu und verstaute es wieder in der Handtasche. Dann lächelte sie quer durch den Raum Kids Freund an. Und winkte ihn mit einer knappen Bewegung ihres Zeigefingers zu sich herüber.
Er begann zu reden. Sie wußte nicht worüber. Sie dachte wieder an die chemische Reinigung. Und an den Test, den sie am nächsten Tag machen sollte. Psychologie. Sie kannte bereits eine der Fragen: Können Sie beweisen, daß es so etwas wie das Lustprinzip gibt? Ja, das konnte sie. Das konnte sie sogar ganz bestimmt.
Und dann dachte sie darüber nach, weshalb ihr die Vorstellung, Kid weh zu tun, so gut gefiel.
Sie wußte es nicht. Wirklich und wahrhaftig nicht.
Aber es zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht.
D ER T ODESENGEL
Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so glücklich gewesen zu sein.
Zum erstenmal, seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihr Leben unter Kontrolle.
Die Geschäfte liefen super, und solange die Wirtschaft stark blieb und der Markt sich weiterentwickelte, war sie sicher, daß sie super bleiben würden. Sie liebte, was sie tat, und hatte das Gefühl, daß sie jetzt richtig gut darin war. Sie vertraute ihrem Auge, verließ sich darauf, daß sie feststellen konnte, wer und was sich weiterentwickeln würde. Und andere Leute schienen dieses Vertrauen zu teilen.
Sie war gerade nach zwei aufregenden Wochen zurückgekehrt, eine in Paris, eine in London. Sie hatte dort neue Kunden, neue Klienten, neue Agenten getroffen. Es war ihr erster Trip nach Übersee, und er war berauschend. Es war klassenmäßig für sie ein großer Schritt nach oben, das wußte sie, aber sie hatte es gewagt und geschafft. Mehr als das – sie hatte sogar Erfolg! In Paris hatte sie im L’Ambroisie diniert, dem teuersten Restaurant, das sie je besucht hatte. Sie bezahlte nicht, das tat der Klient, aber sie konnte nicht anders, als einen schnellen Blick auf die Rechnung zu werfen, und rechnete sich schnell aus, daß sie sich auf fast 250 pro Person belief. Sie mußte allmählich dekadent geworden sein, wie sie erkannte, denn sie entschied, daß der Preis durchaus angemessen war. Sie hatte es als 250-Dollar-Essen empfunden . Sie ging natürlich in jedes Museum, in das sie hineinkam. Sie verbrachte fast ihren gesamten freien Nachmittag im Musee d’Orsay und blieb dort bis zum Ende der Öffnungszeit. Sie verließ es erst, als ein Wächter sie zum Gehen aufforderte.
In London zog sie an einem Abend von Pub zu Pub, trank Unmengen Bier und geriet ein wenig außer Kontrolle. Aber es war okay, niemand nahm daran Anstoß. Als der Abend zu Ende war, kehrte sie nicht in ihr Hotel zurück. Sie amüsierte sich viel zu sehr, und sie war betrunken, und daher ging sie zurück in die Wohnung eines Künstlers, kein besonders erfolgreicher, aber er hatte schon den ganzen Abend versucht, sie anzubaggern, und sie dachte, daß er außergewöhnlich gut aussah. Es war eine gute Entscheidung gewesen, denn ihr Sex war großartig.
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