Icarus
Sie tranken noch mehr und bumsten sich die Seele aus dem Leib, und so toll das alleine schon war, so toll war es auch, in dieser Wohnung zu sein, einem Loft direkt an der Themse, weit im Osten, mit großen Fenstern, die auf den Fluß und auf einen Teil der Stadt hinausgingen, die aussah, als lebte Charles Dickens noch immer dort. Am nächsten Tag hatte sie nicht einmal einen Kater, und ein anderer nahm sie mit in den Groucho Club, um mit ihr über ein Buch zu reden, ob sie glaubte, daß es in Amerika bestehen könnte – und ob sie nicht Lust hätte, dazu ein Vorwort zu schreiben.
An ihrem letzten Abend dort speiste sie ganz allein. Es war ihre Entscheidung – genaugenommen zwang sie sich dazu, da sie fast so etwas wie eine Phobie davor hatte, in der Öffentlichkeit allein zu essen. Aber es gefiel ihr. Sie suchte ein besonders schickes Lokal in Soho auf, den Sugar Club – eine Empfehlung des Time-Out-Restaurantführers. Sie nahm noch nicht mal eine Illustrierte oder ein Buch zum Lesen mit. Sie aß und dachte über alles nach, was mit ihr geschehen war, und ließ sich von den Kellnern verwöhnen, was sie auch taten.
O Gott, sie fühlte sich so kultiviert.
Es machte ihr nichts aus, nach Hause zurückzukehren. Es störte sie nicht, daß sie auf dem Flughafen von Leuten angerempelt wurde, die es eilig hatten, ihr Gepäck vom Förderband zu holen. Oder auf der LIE im Verkehr stekkenzubleiben. Sie hatte nichts dagegen, in ihre Wohnung zurückzukehren, die ihr warm und gemütlich vorkam. Sie genoß es, auszupacken und ihre Reisekleidung in den Wäschesack zu stopfen und ihre alte graue Trainingshose und das Marc-Anthony-Sweatshirt anzuziehen, das sie sich während seines Konzerts im Madison Square Garden gekauft hatte.
Das einzige, was sie störte, erfuhr sie, als sie ihren Anrufbeantworter abhörte.
Drei Nachrichten von Kid. Er hoffe, sie wäre mittlerweile wieder zurück. Er wolle sie dringend sprechen, wolle sie sehen. Ob sie so nett wäre, ihn anzurufen.
Sie wollte ihn nicht anrufen. Es war vorbei, und das hatte sie ihm erklärt, bevor sie abgeflogen war. Jetzt, nach dieser Reise, war sie sich mehr als sicher, daß sie dafür sorgen sollte, daß es beendet blieb. Es hatte Spaß gemacht, und, ja, es war für sie gut gewesen. Selbst ihr Psychiater sagte das. Doch es war vorbei. Sie mußte weiterziehen, sich etwas Neues, Besseres suchen. Es wurde Zeit, das, was sie war, hinter sich zu lassen. Es wurde Zeit, daß sie zu dem wurde, wozu sie sich bereits entwickelte.
Sie dachte, sie hätte ihm das klargemacht. Sie war ganz sicher, daß sie es klargemacht hatte. Und sie wollte ihn nicht wiedersehen, um die ganze Angelegenheit noch einmal durchzudiskutieren. Sie wußte genau, was geschehen würde – sie würde schwach werden. Sie würde wieder anfangen, ihn gern zu haben – das stand nie zur Debatte –, und sie würde sich wieder zu ihm hingezogen fühlen – das stand erst recht niemals zur Debatte –, und sie würde daran denken, was er alles von ihr wußte. Sie würde anfangen zu begreifen, daß er ihr Leben wieder so … so … wenig wünschenswert machen konnte.
Sie dachte an die Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter und wurde zornig. Richtig zornig. Sie überlegte, ob sie ihren Psychiater anrufen sollte, aber dann dachte sie: Nein, das kann ich allein regeln. Ich kann es. Ich war gerade in London und Paris, und ich bin kultiviert und souverän. Ich komme selbst damit zu recht.
Sie entschied, am besten wäre, ihn zu ignorieren. Sie würde seine Anrufe nicht erwidern. Ja, das war ganz gewiß das beste. Sonst würde sie nur noch wütender.
Und ihre Wut machte ihr Angst. Und deprimierte sie.
Sie erinnerte sie an zu viele Dinge, die längst vergessen sein sollten.
DIE ERFÜLLUNG
Es war seltsam, ihm wieder so nahe zu sein. Sie wußte, wo er wohnte, sie fing an, sein neues Leben kennenzulernen, und manchmal dachte sie, sie könnte seine Nähe spüren. Sie könnte ihn spüren.
Er hatte natürlich keine Ahnung, daß sie in der Nähe war. Und das war besser so. Es war die einzige Möglichkeit, das ihr klar. Es wäre ein Fehler, zu ihm hinzugehen. Es wäre ganz bestimmt eine Katastrophe. Er würde nicht an sie denken wollen. Er würde sie nicht sehen wollen. Er würde noch nicht einmal wissen wollen, daß sie lebte.
Sie drehte sich in ihrem Bett auf die andere Seite. Behutsam streichelte sie den Rücken des Mannes neben ihr, bis er sich rührte und aufwachte. Sie hätte es ihm nicht erzählen sollen. Das war
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