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Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens

Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens

Titel: Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Beth Durst
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starrte sie ihn einfach nur an, und ihre Eingeweide krampften sich zusammen. Sie hätte unmöglich sagen können, was genau sie jetzt dachte oder fühlte.
    Nach all der Zeit mit Bär wirkte ihr beinahe zwei Meter großer Vater klein und zerbrechlich. Sein Haar war von weißen Strähnen durchzogen, unter dem struppigen Holzfällerbart hing die Haut schlaff am Hals herab. Sie hatte vergessen, wie grau er inzwischen war. Während sie ihn weiter anstarrte, versuchte sie, diesen Mann mit dem Bild in ihrem Kopf in Einklang zu bringen. Wie hatte sie ihn jemals Furcht einflößend finden können? Sie wäre am liebsten zu ihm hinübergegangen und hätte ihm das Haar aus den Augen gestrichen. Er sah so … menschlich aus.
    Max räusperte sich, und Dad blickte von seinen Papieren auf.
    »Hi, Dad«, sagte Cassie.
    Im ersten Moment war er vollkommen verblüfft, als ob sie vom Himmel mitten in die Küche gefallen wäre. Dann kam er wieder zu sich und schoss aus dem Stuhl hoch, der umkippte und hinter ihm zu Boden polterte. Zwei lange Schritte, und er war bei ihr, umarmte sie stürmisch. »Oh, mein kleines Mädchen!«
    So hatte er sie schon jahrelang nicht mehr genannt. Cassie schluckte. »Wo ist Mom?« Das Wort schmeckte fremd auf ihrer Zunge.
    Das Gesicht ihres Vaters verzog sich zu einem riesigen Lächeln. Sie immer noch an den Schultern haltend, rief er: »Gail! Gail, sie ist zu Hause!« Er drückte fest zu. »Gail!«
    Hinter sich hörte sie schnelle Schritte auf dem Flur. Das war ihre Mutter. Sie rannte. Cassies Rückenmuskeln spannten sich an. Vor der Tür stoppten die Schritte, und ihr Vater ließ sie los. Aber Cassie war nicht imstande, sich umzudrehen. Es war, als wären ihre Füße am Linoleum des Küchenbodens festgeklebt. Wovor hast du denn Angst?, schalt sie sich selbst. Dreh dich um.
    Nein, ich will nicht.
    Hab dich nicht so. Dreh dich um, verdammt noch mal!
    Sie drehte sich um, ganz, ganz langsam. Tresen, Schränke, Wand, Max, Owen … »Gail«, sagte Dad zu der Frau in der Tür. »Das ist Cassandra. Cassie, das ist deine Mutter.«
    Grüne Augen. Eine Weile lang war das der einzige klare Gedanke, den Cassie fassen konnte. Sie starrte ihrer Mutter ins Gesicht, während ihr Gehirn im Kopf herumzuwirbeln schien wie ein Spiralnebel. Es stimmte: Sie hatte wirklich ihre Augen.
    Aber damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Verglichen mit Cassie war Gail klein, höchstens einen Meter zweiundsiebzig. Und sie hatte schwarzes Haar, nicht rotes. Statt scharfer Wangenknochen hatte sie sanft gerundete, wie eine Babypuppe. Sie trug eine rote Bluse und Jeans. Nichts an ihr hatte Ähnlichkeit mit ihrer Tochter, außer den Augen.
    »Mutter«, probierte Cassie das Wort.
    Ihre Mutter schluckte und schüttelte die Hände aus, als wüsste sie nicht, was sie sonst mit ihnen tun sollte, als wäre sie überrascht, überhaupt Hände zu haben. »Du kannst mich Gail nennen, wenn du dich damit besser fühlst«, sagte sie mit zitternder Stimme.
    Ihre Mutter war eine Fremde, die Gail hieß. »Gail«, sagte Cassie. Ihre Mutter beim Vornamen zu nennen, war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Sie versuchte zu lächeln. »Gale, der Hagel, die Tochter des Nordwinds. Sehr witzig.«
    Ihre Mutter strahlte sie mit einem Lächeln an, das aus einer Zahnpasta-Werbung hätte stammen können. »Nicht Gale, Gail. Das ist die Abkürzung für Abigail.« Cassie kam ein alberner Gedanke: Wo hatte ihre Mutter hier oben bloß diesen Lippenstift aufgetrieben? Er war so rot wie ein reifer Apfel und wirkte genauso unpassend wie Baumwoll-Jeans bei 50 Grad minus. »Aha«, sagte Cassie und starrte sie weiter an. Ihre Mutter wirkte viel kleiner, als sie sie sich in ihren Tagträumen ausgemalt hatte.
    Das Lächeln verschwand, und Gail verdrehte verlegen die Hände ineinander. »Könnte ich … Wäre es in Ordnung, wenn ich dich umarme?«
    »Vielleicht«, sagte Cassie. Wäre es das? »Ja.«
    Gail trat einen Schritt auf sie zu und streckte unbeholfen die Arme aus. Cassie ging ihr ebenfalls einen Schritt entgegen. Ihre Mutter roch nach Kiefernwald, nach Sturmwind. Ihre Arme fühlten sich knochig an. Cassie legte ihr die Hände auf die Schulterblätter. Sie umarmte eine Fremde. Jetzt, wo sie sich so nahe waren, spürte sie den tiefen Abgrund all der Jahre, jeder einzelnen Minute.
    Mit sanfter Stimme sagte ihre Mutter: »Mein Baby. Mein kleines Mädchen.«
    Und da brach etwas in Cassie entzwei. Sie konnte es direkt spüren. Es war, als gäbe eine schwer gebeugte Fichte

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