Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
nach einem langen Winter schließlich unter der Last des Eises nach. Und plötzlich waren ihre Wangen nass. Tränen überschwemmten ihre Augen, und sie konnte nichts mehr sehen. Cassie vergrub ihr Gesicht an der grobknochigen Schulter ihrer nach Kiefernholz duftenden Mutter. Gails Arme begannen zu zittern. »Mein Baby, mein Baby.« Dann versagte ihr die Stimme. Sie weinte auch.
Nun musste es irgendwie weitergehen. Cassie hatte niemals über die erste Begegnung hinausgedacht. Doch jetzt, da dieser Moment vorbei war, wusste sie nicht, was sie zu dieser Frau sagen sollte, dieser Fremden, ihrer Mutter.
Owen – ausgerechnet Owen! – kam ihr zu Hilfe. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass er und Max immer noch im Raum waren. »Wie bist du … Wie bist du entkommen?«, fragte er.
Dankbar wandte Cassie sich ihm zu. »Ich bin nicht entkommen. Ich bat ihn, mich gehen zu lassen, und Bär hat mich nach Hause gebracht.«
»Einfach so?«, fragte Gail. Sie klang überrascht.
Cassie musste an Bär denken, draußen vor der Station. Ich liebe dich, hatte er gesagt. »Einfach so«, log sie.
»Aber das Versprechen eines Munaqsri kann nicht gebrochen werden–«, begann ihre Mutter.
»Das spielt keine Rolle«, schnitt Dad ihr das Wort ab. »Sie ist jetzt hier. Sie ist frei.«
Doch, es spielte sehr wohl eine Rolle. Das Versprechen eines Munaqsri. Ihre Mutter (Gail, korrigierte sie sich) hatte recht. Cassie hatte Eide geschworen, Versprechen gegeben. Einem Munaqsri. Wenn er gewollt hätte, hätte er dafür sorgen können, dass sie blieb. Er aber hatte sich entschieden, sie gehen zu lassen, obwohl er sie liebte – oder vielleicht, kam ihr urplötzlich in den Sinn, weil er sie liebte?
»Wir werden nicht zulassen, dass er dich jemals wieder mitnimmt«, versprach ihr Vater.
»Oh nein, so ist es nicht«, sagte Cassie schnell. »Er ist nicht so. Wir sind … Freunde«, schloss sie. Ein besseres Wort wollte ihr dafür einfach nicht einfallen. Bis zum Beginn der Wurfsaison war er ihr ständiger Gefährte gewesen. Sie hatten geredet und gelacht und jede Sekunde miteinander verbracht.
»Freunde? Du und das Monster, das dich von deiner Familie weggeholt hat? Du und das Monster, das dich monatelang von uns ferngehalten hat? Cassie, wir dachten, du seist tot!«
Cassie errötete. Sie hätte zumindest versuchen sollen, ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen. Aber auf den Gedanken war sie überhaupt nicht gekommen. Es war ihre Schuld, dass sie sich solche Sorgen gemacht hatten. »Er ist kein Monster«, widersprach sie. Ich liebe dich , hatte er gesagt. Hör auf, darüber nachzudenken! Sie war hier, zusammen mit ihrer Mutter, ihrer Mutter , die lebte.
»Was du getan hast … «, sagte Gail. »Es war sehr mutig. Ich danke dir.«
Mit dem Wort »mutig« konnte Cassie nichts anfangen. Es hatte ihr gefallen in dem Schloss. Sie war im Ballsaal Schlittschuh gelaufen, hatte neue Skulpturen für den Garten aus Eis entworfen, beim Schach verloren. Ihre Mutter wartete darauf, dass sie etwas sagte. »Ich konnte dich doch nicht dort lassen.« Dort, in einer Troll-Festung. Es klang immer noch höchst unglaubhaft. Gail wedelte mit den Händen. Offensichtlich war ihr das alles ziemlich unangenehm. Sie hatte die Finger einer Debütantin, lang und schlank, tadellos gepflegte Nägel, zarte Haut. Die achtzehn Jahre, die sie unter Trollen verbracht hatte, schienen sie nicht sehr mitgenommen zu haben. »Was sind Trolle überhaupt?«, fragte Cassie. Es klang schroffer als beabsichtigt.
»Cassie, deine Mutter möchte nicht darüber sprechen«, sagte Dad.
Gail schüttelte den Kopf. »Ist schon gut, Laszlo.« Und zu Cassie: »Da waren wirklich Trolle, und ich war wirklich in ihrer Festung gefangen.«
Cassie wandte den Blick ab. Sie war nicht imstande, weiter in diese vertrauten und zugleich fremden grünen Augen zu sehen. Sie hatte nicht so barsch sein wollen, nicht zu ihr. Zu Dad vielleicht. Schließlich hatte er keinen Versuch unternommen, seine Frau aus dieser unsäglichen Festung zu befreien, sondern es Cassie überlassen, sie zu retten.
»Trolle sind … Das ist schwer zu erklären. Die Bezeichnung wird ihnen nicht gerecht«, begann Gail. »Sie haben keine Gestalt, keinen festen Körper. Ihre Königin wählen sie unter denen aus, die am längsten in einer Gestalt verweilen können, aber dennoch … « Sie stockte. »Es ist eine Insel voller wilder Geister.«
»Wie hat Bär dich befreit?«, fragte Cassie. Bär hatte ihr nie davon erzählt. Sie hatte ihn
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