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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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Taten führt dazu, dass Mitarbeiter mit Trotz und Sarkasmus reagieren. Dann sparen sie nicht mit dem Geld der Firma, nur mit dem eigenem Engagement. 41
    3. Hau ihnen Kritik um die Ohren!
    Der Chef müsste bester Laune sein: Er hat gute Zahlen zu verkünden! Der Konferenzraum ist voll mit Besuchern. Doch als der Vorgesetzte hört, sein Mitarbeiter, Herr O., habe ein Papier noch nicht ausgeteilt, verengen sich seine Augen zu Schießscharten: »Tja, das hatte ich gerade vor 20 Minuten gesagt: Es wäre schön, wenn die Zahlen verteilt wären.«
    Der Versuch des Mitarbeiters, sich zu erklären, wird vom Chef abgewürgt: »Herr O., reden Sie nicht, sorgen Sie dafür, dass die Zahlen jetzt verteilt werden.« Der Chef kündigt an, die Konferenz bis dahin zu verlassen. Im Abdrehen raunzt er O. an: »Sorry! Ich hatte Ihnen die Wette angeboten, Sie werden sie nicht verteilt haben. Vor einer halben Stunde.« Dann geht er, lässt seinen Mitarbeiter mit den Besuchern allein.
    20 Minuten später kommt der Chef in den Raum zurück. Sofort drischt er wieder auf seinen Mitarbeiter ein, der gerade die neuen Unterlagen organisiert. »Wir warten, bis der O. da ist, er soll den Scherbenhaufen schon selber genießen.« Herr O. eilt herbei, teilt das Papier aus und erläutert den Konferenzteilnehmern die »Neuerungen«. Doch sein Chef übergießt ihn mit Hohn: »Wenn Sie bisher nix verteilt hatten, ist’s auch keine Neuerung.« 42
    Eine alltägliche Irrenhaus-Szene zwischen Chef und Mitarbeiter – nur dass diesmal ein paar Millionen Zuschauer die verbale Hinrichtung verfolgten. Denn der Chef hieß Wolfgang Schäuble, seines Zeichens Finanzminister. Der Mitarbeiter war sein Pressesprecher Michael Offer. Und die Konferenz war eine Pressekonferenz.
    Später eierte Schäuble in einem Interview herum: »Bei aller berechtigten Verärgerung habe ich vielleicht überreagiert.« 43 Michael Offer, vor den Augen der Nation gedemütigt, ließ sich aus dem Amt des Pressesprechers entlassen.
    Zwar hat George Orwell einmal geschrieben: »Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen.« Aber man kann diese Freiheit auch übertreiben! Gleich vier kapitale Führungsfehler hat der Irrenhaus-Direktor Schäuble begangen: Der erste war, dass er seinen Mitarbeiter in der Öffentlichkeit kritisierte. Gute Führungskräfte loben in der Gruppe und kritisieren unter vier Augen. Niemals darf Kritik an einem Mitarbeiter zum Kunden oder in die Öffentlichkeit dringen.
    Der zweite Fehler bestand darin, wie er kritisiert hat: nicht sachlich, sondern menschenverachtend. Er bot Wetten gegen seinen Mitarbeiter an, bezichtigte ihn als Verursacher eines »Scherbenhaufens« und schlug verbal so lange unter die Gürtellinie, bis von »Herrn Offer« nur noch »der Offer« übrig war. Menschenwürde ade!
    Drittens hat er die 20 Minuten zwischen den beiden Vorfällen nicht genutzt, um seinen Ausraster zu reflektieren; er ging sofort wieder auf den Mitarbeiter los. Beim Führen gilt dasselbe wie beim Sport: Im Eifer des Gefechts kann ein Foulspiel passieren. Dafür gibt’s die gelbe Karte. Wer aber nachtritt – also nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich den anderen verletzt –, muss immer die rote Karte sehen.
    Und viertens hat Wolfgang Schäuble das Format gefehlt, sich nachträglich zu entschuldigen. Seine Pseudo-Reflexion »Bei aller berechtigten Verärgerung habe ich vielleicht überreagiert« wird von drei Wörtern dominiert: »berechtigte Verärgerung« und »vielleicht«. Sicher ist seiner Meinung nach, dass er ein Recht hatte, sich über den Mitarbeiter zu ärgern. Ungewiss ist, ob er überhaupt zu heftig reagiert hat (»vielleicht«).
    Doch wer wurde zum Gespött der Nation? Nicht Michael Offer, der Verspottete, sondern Wolfgang Schäuble, der Spottende. Die Menschen im Land sahen Schäubles Verhalten als Kostprobe schlechten Charakters, als Totalversagen einer Führungskraft. Warum kam der Minister, eigentlich ein heller Kopf, nicht zu derselben Erkenntnis? Wie gering muss seine Einfühlung für den Mitarbeiter, wie groß sein Realitätsverlust sein?
    Dahinter steht ein grundsätzliches Führungsproblem, auf das der Psychologe Daniel Goleman hinweist: Je höher der Rang einer Führungskraft – siehe Minister

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