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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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erinnerte ihn an seine eigenen Worte: »Aber die Verspätung – Sie wollten denen doch die Ohren langziehen.«
    Â»Haben Sie denn eine Alternative in der Tasche? Eine andere Firma, die von heute auf morgen die Aufträge übernehmen könnte? Ich nicht!«
    Â»Aber ich möchte, dass Termine eingehalten werden.«
    Â»Das möchte ich auch. Und deshalb brauchen wir ein Klima der Kooperation und nicht der Konfrontation.«
    Wieder war er in letzter Sekunde auf ein neues Meinungsfeld gesprungen. Offenbar hatte ihn die Geschäftsführung zur Milde gegenüber dem Zulieferer gemahnt (der Bruder eines Vorstands arbeitete dort in leitender Position).
    Dieses Muster kannten seine Mitarbeiter zu gut! Hatte er nicht monatelang gepredigt, alle Kernaufgaben in der Abteilung zu lassen und nichts auszulagern? Und war er, der größte Auslagerungs gegner, dann nicht aus einer Managementsitzung als der glühendste Auslagerungsverfechter zurückgekehrt? Mit ernster Miene schwärmte er den Mitarbeitern vor: »Je mehr wir auslagern, desto mehr Zeit bleibt uns für die Kernaufgaben. Wir werden dadurch unentbehrlicher, nicht überflüssig!«
    Unberechenbar wie eine Naturkatastrophe, das sind viele Irrenhaus-Direktoren. Wer für sie arbeitet, kann jederzeit von einem Entscheidungsblitz erschlagen, von einer Prozesslawine verschüttet oder von einer Etatdürre ausgetrocknet werden. Ohne Vorwarnung.
    Warum machen die Wendehälse in den Irrenhäusern Karriere? Weil ihnen nichts im Weg steht, am wenigsten ihr Charakter; und weil sie ihre Meinung so lange wechseln, bis sie kein Millimeter mehr von der obersten Irrenhaus-Direktion trennt.
    Einmal war ich Zeuge, als ein leitender Manager in einem Training einen unteren Chef fragte: »Für unsere Strategie sehe ich zwei Möglichkeiten: Wir erhöhen die Preise und verkauften dieselbe Menge. Oder wir senken die Preise ab und verkaufen deutlich mehr. Was sollen wir tun?«
    Der Nachwuchsmanager schaute den Irrenhaus-Direktor mit dem forschenden Blick eines Gedankenlesers an. Leise, fast flüsternd, sagte er: »In der Tat würden reduzierte Preise vielleicht zu einer größeren Nachfrage führen.« Er pausierte und studierte das Gesicht des Direktors. Dort zogen auf der Stirn grimmige Falten auf.
    Der Nachwuchsmanager erkannte das Zeichen und sprang rasch auf das andere Meinungsfeld: »Aber viel besser wäre es natürlich, wir würden eine Preiserhöhung durchsetzen und auf derselben Qualitätsschiene wie bisher bleiben.«
    Doch der Direktor gab sich noch nicht zufrieden: »Und bis wann sollte das geschehen?« Wieder setzte der Jungmanager vorsichtig einen Fuß auf ein Meinungsfeld: »Einige Leute sagen ja, man könne das schon in wenigen Monaten schaffen.« Ein winziges Nicken verriet den Direktor. Der junge Mann zog den anderen Fuß blitzschnell auf dasselbe Feld nach und fügte selbstsicher hinzu: »Wir sollten zupackend agieren und die Preiserhöhung schnell in die Wege leiten.«
    Ich musste an Scott Adams denken, den Autor des Dilbert-Prinzips, der die kommunikativen Eiertänze der Führungskräfte so erklärt: Erst wenn man sich auf etwas festlegt, kann man unrecht haben! 38
    Aber wo sind die gewachsenen Führungspersönlichkeiten geblieben? Die Überzeugungstäter, die sagen, was sie denken, und denken, was sie sagen? Die Gradlinigen, die eine Dummheit noch eine Dummheit nennen, auch wenn sie von oben kommt? Die Kritischen, die Mitarbeiter nach ihrem Ebenbild schätzen, mit Mut zum Widerspruch und zur eigenen Meinung – und nicht bloß charakterbefreite Kopfnicker?
    Das System reproduziert sich selbst. Wen befördert ein Irrenhaus-Direktor, der die Tatsache, dass er selbst kein Rückgrat hat, mit Flexibilität verwechselt? Den Anpassungskünstler. Und wen befördert er allenfalls vor die Tür? Den Charakterfesten.
    Irrenhaus-Mitarbeiter werden zu Papageien dressiert. Wer bei diesem Spiel nicht mitmacht, wird abgestempelt als Spielverderber, als Quertreiber, als Außenseiter. Das gilt auch in der Politik, wie der verdiente CDU -Abgeordnete Wolfgang Bosbach erfahren musste. 39 Er weigerte sich, für den Euro-Rettungsschirm zu stimmen. Worauf ihn Ronald Pofalla, Pitbull der Kanzlerin, beim Verlassen einer Sitzung anfiel: »Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen!« Bosbach verwies auf das Grundgesetz. Kanzleramtsminister Pofalla

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