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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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angeheuert hatte, um die unmenschlichen Arbeitsbedingungen mit der Kamera zu dokumentieren. Seine Reportage ist ein Lehrstück über eine Ausbeutung, die auf offener Straße geschieht, aber kaum durchschaut wird. 64
    Der Kunde nimmt nur sein Paket entgegen. Das andere Päckchen, das der Kurier zu tragen hat, nämlich die Zumutungen, die ihm sein Arbeitgeber aufbürdet, sieht er nicht.
    In Sachen Ausbeutung geht die Post ab, in ganz Deutschland. Wolfgang Abel, bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi für Postdienst zuständig, sagte dem NDR : »Es gibt mindestens 50 000 Paketzusteller bundesweit bei den fünf großen Playern, von denen sind mindestens 35 000 nach diesen Bedingungen beschäftigt.« Einige der großen Paketdienste – Hermes, DPD und GLS  – arbeiten sogar zu 100 Prozent mit Subunternehmern. 65
    Was nützen Mindestlöhne, wenn sie keiner einhält? Was nützen Rechte, wenn sie keiner einklagt? Und was nützt es, wenn sich große Arbeitgeber wie DHL von den Praktiken ihrer Subunternehmer distanzieren, sie aber gleichzeitig zulassen und fördern, etwa durch die Vorgabe von Zustellquoten?
    Die Würde des Leiharbeiters ist antastbar. Auch in anderen Branchen. Je schmutziger und gefährlicher eine Arbeit, desto eher greifen die Irrenhäuser auf Leihsklaven zurück. Dreimal dürfen Sie raten, wer in den deutschen Atomkraftwerken die Arbeit mit der höchsten Strahlendosis verrichtet? Die Leiharbeiter! Über 24 000 sind als Himmelfahrtskommando im Einsatz. 66 Sie wechseln die Brennelemente aus, schrubben die Böden der Abkling­becken und tauchen sogar in den Primärkreislauf ab, um Löcher zu stopfen.
    Die Irrenhaus-Direktoren spielen Schweinchen Schlau: Kostengünstig lagern sie die Strahlenbelastung aus. Die Jahresdosis für das gesamte Eigenpersonal der Atomkraftwerke beziffert die Bundesregierung auf 1,7 Sievert (das ist die Maßeinheit für Strahlenbelastung). Dagegen kommen die Fremdbeschäftigten insgesamt auf 12,8 Sievert. Knapp 90 Prozent der Strahlenbelastung gehen am eigenen Humankapital vorbei und treffen zielsicher die menschliche Leihware.
    Der AKW -Boss darf also sicher sein, dass seine eigenen Mitarbeiter, wenn sie in seinem Chefbüro vorsprechen, ihm nicht allzu viel Radioaktivität in den teuren Teppich treten. Der Geigerzähler schweigt. Der Betriebsrat bleibt friedlich. Der heilige Sankt Florian hat das eigene Haus verschont; nur die Zelte der Zeitarbeiter brennen.
    Wenn der Leiharbeiter dann seine Schuldigkeit getan hat, wenn er wochenlang geschuftet und den gröbsten Dreck beseitigt hat, darf er als Nuklear-Nomade zum nächsten Kraftwerk weiterziehen. Mit hängenden Mundwinkeln. Aber doch strahlend.
    Â§ 28 Irrenhaus-Ordnung: Ein Leihmitarbeiter wird entlassen, wenn er ein schweres Delikt begeht. Als schwere Delikte gelten: Körperverletzung, Diebstahl und das Einfordern der eigenen Rechte.

Irrenhaus-Sprechstunde 14
    Betr.: Warum ich immer in Spelunken übernachten musste
    Anfangs hatte ich noch in romantischen Vorstellungen geschwelgt: Ich malte mir aus, als Zeitarbeiter im Handwerk würde ich viel von Deutschland sehen, in bequemen Hotelbetten schlafen, mich in heißen Badewannen räkeln und wenigstens nach der harten Arbeit zu einer guten Erholung finden. Laut Vertrag musste ich nur bis zu 20 Euro pro Übernachtung bezahlen, der Rest wurde von der Zeitarbeits-Firma übernommen.
    Aber schon mein erster Einsatz riss mich aus den Träumen. Eine finstere Absteige im Bergischen Land war für mich gebucht worden, 30 Kilometer von der Baustelle entfernt (warum eigentlich so weit?). Das Zimmer war klein wie ein Schuhkarton. Die Tapete blätterte von den Wänden. Die Matratze war so durchgelegen, dass mein Rücken jede einzelne Latte im Rost spüren konnte. Schwarze Käfer krabbelten hinterm Bett her­um, Spinnen seilten sich von der Decke ab.
    Dusche und Toilette lagen auf dem Flur. Aber das Klo war rund um die Uhr von Typen besetzt, die geräuschvoll ihren Schnaps mit Beilage von sich gaben. Und aus dem Duschkopf kam nur Luft, bis ich mit der Faust gegen den Boiler schlug. Plötzlich prasselte dampfendheißes Wasser auf meinen Körper. Ich schrie. Meine Haut sah später aus wie nach einem Sonnenbrand.
    Auf dem Rückweg zur Baustelle notierte ich mir die Anschriften von Hotels am Wegesrand. Diese Adressen gab ich der

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