Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
Vom Netzwerk:
Aufträgen.«
    Doch der definierte Prozess sah keine Ausnahmen vor. Mein Klient alarmierte seinen Fachchef. Der führte zahllose Telefonate mit der Zentrale. Doch jeder Verantwortliche, mit dem er sprach, nannte einen anderen Verantwortlichen, der keine Abweichung von dieser Regelung zulassen würde. Es war, als würde man gegen eine Gummiwand laufen. Franz Kafka hätte an diesem Szenario seine Freude gehabt.
    Nur durch einen Trick gelang es schließlich, den Auftrag doch noch zu erteilen. Der Prozessweg wurde zugleich eingehalten und ausgetrickst: Der Zulieferer bekam den Auftrag nicht direkt, wie bislang, sondern über einen Großzulieferer, der in der Prozessliste stand. Dieser diente als Strohmann und beauftragte seinerseits die alte Firma, genau das zu tun, was sie über Jahrzehnte getan hatte: den Konzern zu beliefern.
    Dieser Vorgang fraß Zeit und kostete Nerven. Nicht zuletzt wurde die Dienstleistung mit einem Schlag teurer, denn die Tarnfirma wollte mitverdienen. Doch am Preis störte sich das Prozesssystem nicht; es kam nur auf den richtigen Lieferantennamen an.
    Das ist die Besonderheit der bürokratischen Anforderungen: Je enger die Irrenhaus-Direktoren ihre Insassen an die Leine nehmen wollen, desto kreativer werden diese darin, die Vorschriften zu umgehen. Die Prozessbürokratie beschwört Mauscheleien, Tricksereien und Tarnkonstruktionen herauf.
    Das gilt auch im Außendienst. Von etlichen Verkäufern weiß ich, dass sie immer weniger Zeit mit dem Verkaufen verbringen, dafür umso mehr mit Umsatzprognosen, Berichtswesen und bürokratischen Erfordernissen – mit Prozessen eben.
    Der Vertriebsmitarbeiter eines großen Konsumgüterherstellers beschreibt die Folgen so: »Wir haben ja gar keine Wahl – wir müssen diese Excel-Tabellen liefern und uns nach den vorgegebenen Plänen richten. Und wenn es eben heißt, dass ein Produkt bitte schön 30 Prozent unseres Umsatzes auszumachen habe, dann macht es halt 30 Prozent aus. Zur Not senkt man den eigenen Umsatz mit einem Nebenprodukt, das sich von der Provision her ohnehin nicht rentiert. Damit die Relation stimmt. Damit die Bürokraten bekommen, was sie gefordert haben.«
    Welch ein Irrsinn: Die Verkäufer, die das Geld reinholen, werden durch das Gängelband der Prozesse gebremst. Das ist so, als würde beim Fußball ein Torjäger damit beauftragt, nicht nur Tore zu schießen, sondern gleichzeitig seinen Laufweg, seine Schusstechnik und seine Trefferquote zu dokumentieren. Wetten, dass das zu Ladehemmung führt!
    Hinzu kommt: Fast alle Vertriebsmitarbeiter haben ihre Arbeit gewählt, weil sie eben keine Schreibtischjobs machen, keine Bürokratie erledigen, sondern mit Menschen arbeiten wollen. Und in dieses Rad der Motivation, angetrieben von intrinsischer Arbeitsfreude, werfen die Irrenhaus-Direktoren den Knüppel ihrer Bürokratie. Und hoffen auch noch, dass sie auf diese Weise ihre Mitarbeiter zu besseren Ergebnissen führen.
    Die meisten Prozesse in den Irrenhäusern führen dazu, dass die Mitarbeiter immer weniger an ihre Kunden und immer mehr an den Prozess denken. Wer einen Kunden vergrault, hat nichts zu befürchten. Wer aber einen festgelegten Arbeitsprozess missachtet, muss mit schlimmsten Sanktionen rechnen.
    Außerdem legen die Mitarbeiter, wenn neue Probleme auftauchen, ihre Hände in den Schoß. Keiner will die Initiative ergreifen, keiner einen Weg auf eigenes Risiko gehen. Dafür lautet der Standardsatz: »Wir warten erst mal ab, bis die Chefetage einen neuen Prozess definiert hat.«
    »Der Prozess« von Franz Kafka endet damit, dass Josef K. am Vorabend seines 31. Geburtstags von zwei Herren mitgenommen und in einem Steinbruch »wie ein Hund« erdolcht wird. Die meisten Prozesse in den Unternehmen enden ebenfalls mit einem Todesurteil. Hingerichtet werden: die Flexibilität der Firma; und die Motivation der Mitarbeiter.
    Betr.: Wie mich die Bürokratie den Flammen zum Fraß vorwarf
    Es war stets dasselbe in unserem Konzern: Einmal im Quartal, immer an einem Freitag, immer vormittags, wurde der Feueralarm geprobt. Es war genau geregelt, innerhalb welcher Zeit wir das Gebäude verlassen und uns auf dem Hof in einer Liste eintragen mussten. Man stelle sich das vor: Alle Mitarbeiter unterbrechen ihre Arbeit für eine Stunde. Viermal im Jahr. Was das an Arbeitszeit kostet!
    Ich hatte wirklich viel zu tun. Deshalb war ich dazu übergegangen, mich von meinem Büronachbarn in diese Liste eintragen zu lassen und am Arbeitsplatz zu bleiben. So

Weitere Kostenlose Bücher