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Ich arbeite in einem Irrenhaus

Ich arbeite in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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auch, als die Sirene mal wieder gegen 11.30 losheute. Die Kollegen plauderten noch etwas und schlenderten gemütlich in Richtung Ausgang.
    Ich arbeitete in aller Ruhe weiter. Bis mir Rauch in die Nase stieg. Bis ich die Einsatzbefehle der Feuerwehr durchs Gebäude hallen hörte. Ich nahm die Beine in die Hand. Im Stockwerk unter uns war ein Papierkorb in Flammen aufgegangen. Und das Feuer schmorte sich durchs Gebäude.
    Mehr als 50 Mitarbeiter waren in dem brennenden Haus geblieben. Der Chef gab sich empört: »Das haben wir doch wirklich oft genug geübt«, schimpfte er. Offenbar war ihm der Zusammenhang gar nicht klar: Wegen der vielen Probealarme, dieser fürchterlichen Übungsbürokratie, wurde die Feuersirene nur noch als Pausensirene wahrgenommen. Keiner nahm sie mehr ernst – genau wie die meisten anderen Prozesse im Haus!
    Pit Ruge, Key Account Manager
    §26 Irrenhaus-Ordnung: Prozesse sind wie Kaugummis: Sie ziehen das, was einmal kurz war, endlos in die Länge.
    Die Quartalszahlen-Säufer
    Auf der ganzen Welt gibt es nur zwei Institutionen, die über den Tellerrand des Tages hinausblicken. Eine davon ist unbedeutend – die Evolution. Und eine davon ist bedeutend – die deutschen Konzerne. Haben Sie schon mal zugehört, wenn sich ein CEO vor den Aktionären zu »Captain Future« aufplustert? Das klingt so, als käme es ihm nicht auf die Kurzstrecke, nicht auf die Geschäftsergebnisse der Gegenwart an – sondern allein auf die Zukunft.
    In jedem Redemanuskript finden sich Aussagen wie: »Wir dürfen nicht jeder Entwicklung des Marktes hinterherlaufen. Wir dürfen nicht Sklaven des schnellen Erfolges werden. Wir müssen unsere Speerspitze der Innovation von langer Hand schleifen. In zehn Jahren werden auf dem Spielfeld der Globalisierung nur wenige Player übrig sein. Dann erst zeigt sich, wer die Weichen richtig gestellt hatte. Ich verspreche Ihnen: Wir werden zu den Größten, den Besten, den Innovativsten gehören!« (Stürmischer Applaus.)
    Mein Klient Ingo Klewer (55) arbeitet seit zwanzig Jahren für einen Weltkonzern und kann über solche Sprüche nur den Kopf schütteln: »Es ist immer wieder dasselbe. Nach außen wird die Nachhaltigkeit gepredigt – und nach innen wird die Kurzatmigkeit gelebt. Ich habe jetzt vier CEOs erlebt, die fast nichts gemeinsam hatten. Bis auf eines: Sie haben sich sonst was aufgerissen, um ihre Quartalszahlen nach oben zu pushen.«
    Ingo Klewer hat groteske Entscheidungen erlebt: »Wir haben einen Auftrag in dreistelliger Millionenhöhe erwartet – allerdings erst nach Ende des Quartals. Da hat sich die Vorstandsetage eingeschaltet: Ob es nicht möglich sei, den Kunden noch in diesem Quartal zu einem Abschluss zu bewegen? Zum Beispiel mit einem Rabatt (obwohl Rabatte bei uns eigentlich verpönt waren). Am Ende mussten wir beim Preis so viel nachlassen, dass es ein Nullsummenspiel wurde. Und doch: Das Quartalsergebnis war großartig. Der CEO wurde in den Medien gefeiert: Er habe das Ruder herumgerissen, hurra und trallala. Nirgendwo stand: Der Kerl hat gerade ein paar Millionen aus dem Fenster geworfen, nur um selbst gut dazustehen.«
    Solche Amokläufe fürs Quartalsergebnis sind bei Aktiengesellschaften üblich. Das Denken der angestellten Manager reicht nicht weiter als die Laufzeit ihres Vertrages. Und dass diese Verträge ihre Laufzeiten überhaupt erreichen, setzt voraus, dass die Aktionäre bei Laune gehalten werden – mit guten Quartalszahlen.
    Jeder kleine Gruppenleiter weiß, dass er bei den Häuptlingen hoch im Kurs steht, wenn seine Zahlen beim Frisieren des Quartalsergebnisses mithelfen – und dass er sich zur Unperson macht, wenn er das Quartalsergebnis durch plumpen Realismus nach unten zieht. Jede besoffene Entscheidung mutiert zum »klugen Schachzug«, wenn sie nur dem Quartalsergebnis dient.
    Diese Politik führt direkt in einen Teufelskreis, wie Ingo Klewer erzählt: »Kurz vorm Quartalsende ging eine Maschine kaputt. Der Werksleiter hat die Anschaffung ins nächste Quartal verschoben. Doch dann fiel eine weitere Ausgabe an. Er schob die Anschaffung erneut auf. So ging das über viele Quartale. Den kurzfristigen Zahlen hat das genützt, doch unserem langfristigen Ergebnis verdammt geschadet.«
    Aber stimmt es tatsächlich, dass die Öffentlichkeit so sehr auf die Quartalszahlen eines Unternehmens fixiert ist? Absolut! Noch nie in der Geschichte der Menschheit war die Halbwertszeit der Informationen so kurz wie heute. Ein ständiger Wind aus

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