Ich arbeite in einem Irrenhaus
reichen.« Das war einem Sparprogramm zu verdanken, das für unseren Bereich des Konzerns erlassen worden war.
Da saß sie nun mit einer funktionsuntüchtigen Lampe. Erst hatte sie vor, selbst eine Leuchtröhre zu kaufen. Doch aus Trotz ließ sie es sein. Stattdessen gab sie die Lampe an ihren Kollegen Werner weiter. Er arbeitete in einem anderen Bereich des Konzerns, wo die Etats bekanntlich noch großzügig waren.
Doch Werner bekam von der Materialbeschaffung zu seiner Verblüffung gesagt, man könne ihm keine einzelne Leuchtröhre besorgen – da bislang noch keine Lampe für ihn registriert sei –, wohl aber eine neue Lampe inklusive Leuchtröhre. Auf dieses Angebot ließ er sich gerne ein und gab die funktionsuntüchtige Lampe an meine Kollegin Gunda zurück. Sie spielt nun mit dem Gedanken, das Teil wegzuwerfen. Aber wer weiß: Womöglich verstößt sie dann erneut gegen eine Vorschrift der Konzernbürokratie!
Daniela Müller, Juristin
§25 Irrenhaus-Ordnung: Die Zentrale weiß und bestimmt alles. Was die Zentrale nicht weiß und bestimmt, lässt sich vom Gehirn nicht erfassen – und muss als Hirngespinst einer Niederlassung gelten.
Der Prozess
»Jemand musste Josef K. verleumdet haben« – mit diesen Worten beginnt »Der Prozess«, ein gespenstischer Roman von Franz Kafka. Der Protagonist wird am Morgen seines 30. Geburtstages verhaftet und soll vor ein Gericht gestellt werden. Völlig offen bleibt, wofür man ihn anklagt, nach welchen Gesetzen dieses Gericht urteilt und folglich: wie er sich verteidigen kann. Der ganze Roman besteht darin, dass der Protagonist mit dem Gericht in Kontakt treten will, aber die Hürden der Bürokratie nie ganz überwinden, seine Ankläger nie ganz durchschauen kann.
Das Wort »Prozess« steht in der deutschen Sprache für zweierlei: für ein Gerichtsverfahren und für einen definierten Ablauf.
Der eine Prozess kann zu lebenslanger Haft, der andere zu lebenslanger Bürokratie führen. Beides kann einen Menschen zermürben. Das wissen Schwerverbrecher. Und Angestellte von Konzernen.
Viele Firmen haben es geschafft, jeden Vorgang, der komplizierter als das Aufkleben einer Briefmarke ist, in die Zwangsjacke eines »standardisierten Prozesses« zu stecken. Das Prinzip funktioniert so: Ein Irrenhaus-Direktor definiert Schritte, die zum Umsetzen einer banalen Notwendigkeit gegangen werden müssen, sagen wir zur Beschaffung von Material. Andere Wege sind den Mitarbeitern versperrt.
Was vorher eine unkomplizierte Angelegenheit war, ein Anruf beim Lieferanten, ist nun zum komplizierten Instanzenweg geworden. Der Irrenhaus-Mitarbeiter hat alle Hände voll zu tun, die Anforderungen des Prozesses zu befriedigen. Der erste Schritt kann sein, dass er klären muss, von welcher Kostenstelle seine Anschaffung abgebucht wird und ob dort noch ein ausreichender Etat vorhanden ist. Falls nicht, hat der Mitarbeiter ein massives Problem – vor allem, wenn seine Anschaffung unaufschiebbar ist.
Der zweite Schritt kann darin bestehen, dass der Mitarbeiter einen Antrag auf Budgetfreigabe ins System eintippt. Dort begründet er, fast wie ein Angeklagter vor Gericht, aus welchem Grund er das tun möchte, was er schon immer getan hat: für eine notwendige Anschaffung das Geld der Firma verwenden.
Dieser Antrag wird, wenn der Mitarbeiter Glück hat, vom System zur Prüfung angenommen. Oder er wird, wenn der Mitarbeiter Pech hat, abgelehnt – vielleicht hat er ja einen Lieferanten angegeben, der im Zuge der globalen Vereinheitlichung nicht mehr zugelassen ist. Etwa weil ihm eine Zertifizierung fehlt. Oder weil sein Auftragsvolumen unter einer frisch definierten Schwelle liegt. Oder weil eine übermüdete Sekretärin seinen Namen beim Eingeben um einen Buchstaben vertippt hat, womit er auf immerdar in den Abgründen des Systems verschwunden ist.
Ein Klient von mir, Einkäufer bei einem Autobauer, hat mir folgende Geschichte erzählt: Über viele Jahre hat er mit einem Zulieferer aus seiner Region zusammengearbeitet. Doch dann wurde der Einkaufsprozess von der Zentrale neu definiert. Bestimmte Dienstleistungen und Produkte mussten von bestimmten Großlieferanten bezogen werden. Jeder Zulieferer, der nicht auf der Liste stand, war aus dem Geschäft.
Mein Klient berichtet: »Das war ein Drama. Für uns, denn wir hatten jahrzehntelang mit diesem Zulieferer zusammengearbeitet und beste Erfahrungen gemacht. Aber auch für den Zulieferer, denn die ganze Firma hing ab von unseren
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