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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penny Hancock
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die Besuche ihrer Tochter gefreut hat.
    Nachdem Kit ihren Kuchen gegessen hat, kommt sie wieder zu mir an die Spüle. Ich schrubbe gerade mit einem Brillo-Pad die verbrannten Überreste aus dem Bräter. Dabei denke ich wieder an Jez und frage mich, wie es ihm geht. Der Gedanke an ihn macht mich nervös. Er ist nicht in meiner Reichweite, und so sollte es nicht sein. Er gehört in das warme Musikzimmer. Die Situation ist aus dem Ruder gelaufen. Etwas, das kostbar und erlesen sein sollte, gleitet mir aus der Hand.
    »Erinnerst du dich an diesen einen Sommer?«, frage ich Kit. Sie trocknet die Pfannen ab, die ich gespült habe, weil sie nicht in die Spülmaschine passen. »In dem alles verfault ist? Es war ganz schwül und feucht. In Ostanglien ist die Ernte einfach auf den Feldern verrottet, und alles hat gestunken. Und diese scheußlichen Moskitos. Die Katze hat Flöhe bekommen. Und du Läuse.«
    »Mum! Warum erzählst du mir das? Läuse … igitt.«
    »He! Du studierst doch Medizin.«
    »Ja, aber um die Parasiten kann sich jemand anders kümmern. Ich fürchte, das ist nichts für mich.«
    »Jedenfalls wurde auf der anderen Straßenseite Kohl angebaut, und die Blätter sind verschimmelt. Der Gestank war grauenhaft! Ich dachte, das Land müsse verflucht sein. Alles, was reif und fruchtbar sein sollte, war widerlich und ekelhaft geworden. Dann sind wir auch noch krank geworden und haben eine Woche oder noch länger mit einem Virus im Bett gelegen.«
    »Davon weiß ich gar nichts mehr«, sagt Kit.
    »Nein. Ich glaube, da warst du erst sechs.«
    »Aber warum fängst du von diesem Sommer an? Wir hatten doch auch viele schöne. Als überall der Weißdorn geblüht hat. Erinnerst du dich noch an den Wiesenkerbel neben den Hecken? Und im Juni an die Kornblumen im Garten? Manchmal vermisse ich Ostanglien schrecklich. Man bekam mit, wie sich die Jahreszeiten ändern. In der Stadt hat man das nicht.«
    Natürlich, Kit war auf dem Land zu Hause. Ihre ersten Ausflüge in die Welt hat sie unter weitem Himmel und zwischen ganzen Feldern aus Mohnblumen unternommen. Die ersten Bilder auf ihrer jungen Babynetzhaut zeigten weiße Wolken vor blauem Hintergrund, grünes Licht, das durch einen Baldachin aus Kastanienblättern sickerte. Diese ersten Eindrücke aus einer Zeit, in der wir uns nicht einmal bewusst sind, dass wir sehen können, begleiten uns. Sie prägen unser Bild von einem echten Zuhause.
    Meine ersten Bilder waren vom Fluss und seinem Schlamm, den Knochen und glatten Kalksteinen, die an den Strand geschwemmt wurden. Von Tonpfeifen, ausrangierten Autoteilen und Treibholz. Seilen und Ketten, behangen mit dunklen Algen. Dem düsteren, grauen Himmel über dem hoch aufragenden Kraftwerk mit seinen dunklen, massigen Schornsteinen. Vom stählernen Kohlenanleger, der einen klirrenden, braunen Arm in das Wasser streckte. Kit hat Ostanglien nie so erlebt wie ich, als Exil, selbst in den strahlendsten Zeiten.
    Und es stimmt, warum fange ich von diesem einen, hässlichen Sommer an? Warum will ich ihre schönen Erinnerungen in etwas Düsteres verwandeln, das man am besten vergisst?
    »Du hast ja recht.« Ich wische die Arbeitsfläche mit dem Trockentuch ab und stelle die Espressomaschine an.
    »Bewahre dir deine guten Erinnerungen. Bitte, Schatz. Trag sie immer im Herzen. Das ist sehr wichtig.«
    Später, als Kit und Harry zu Bett gegangen sind, kommt Greg wieder in die Küche und legt Gitarrenmusik auf. Sie ist von John Williams. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Er nimmt mir gegenüber auf der Bank Platz, schenkt uns beiden ein großes Glas Cognac ein, beugt sich vor und nimmt meine Hand. Die blassen Altmännerlippen verzieht er zu einem flehentlichen Lächeln. Seine Bartstoppeln sind grau. Aus Augenbrauen, Nase und Ohren ragen lange Haare. Seine Haut ist durchzogen von einem roten Netz winziger, geplatzter Äderchen. Er drückt meine Hand.
    »Das mit gerade eben tut mir leid«, sagt er.
    »Was? Was sollte dir leidtun?«
    »Dass ich dir vorgeworfen habe, du wärst passiv-aggressiv. Das war nicht in Ordnung.«
    »Schon gut.« Ich seufze. Meine Hand habe ich weggezogen.
    »Setzt du dich zu mir?«
    Ich gehe um den Tisch herum und setze mich neben ihn auf die Bank. Als er den Arm um mich legt, rieche ich Kaffee und alte Wolle. Es ist nicht unangenehm; ich finde es nicht etwa abstoßend, neben ihm zu sitzen. Es ist vertraut. Es hat mich in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren durch das Leben begleitet und gehört beinahe ebenso zu mir wie

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