Ich bin an deiner Seite
sie nicht zufrieden sein konnte, wie Akiko es war.
»Und darf ich dir auch eine Frage stellen?«
»Okay.«
»Weißt du, was ich sehe, wenn ich dich anblicke?«
»Mich?«
»Ich sehe ein Mädchen, das bald eine junge Frau sein wird. Und diese Frau, da bin ich sicher, wird wie ihre Mutter sein. Irgendwann hat sie selbst vielleicht einmal Kinder. Und ich glaube, sie wird sehr glücklich sein.«
Mattie sah auf. »Glauben Sie das wirklich?«
»Ja«, sagte Akiko lächelnd. »Mein eigenes Leben war wie der Wechsel der Jahreszeiten. Meine Mutter und ich haben oft darüber gesprochen.«
»Wie meinen Sie das, Ihr Leben war ein … Wechsel der Jahreszeiten?«
Akiko blickte Ian an, der ihr kurz zunickte. »Ich war ein Kind im Frühling«, sagte sie, »als die Kirschblüten an den Bäumen hingen. Und der Regen und die Taifune kamen im Sommer, und manchmal musste ich vorsichtig sein. Das sage ich jetzt immer meinen Schülern – habt keine Angst, in die Pfützen zu springen, aber vergesst nicht, den Himmel im Auge zu behalten.« Sie hielt inne, um einen Schluck Tee zu trinken. »Im Herbst, als die Blätter sich gelb färbten und vom Baum fielen, ging ich von zu Hause weg und studierte. Und dann, Jahre später, starb mein Vater. Das war der Winter meines Lebens. Mir war so schrecklich kalt. Aber mein Winter dauerte nicht ewig. Der Frühling kam zurück. Und ich bin jetzt so glücklich wie ein Vogel.«
Mattie sah ihren Vater an, und in ihren Augen glänzten Tränen. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie fest.
»Darf ich dir etwas sagen, Mattie-chan?«, fragte Akiko.
Mattie nickte und blickte in Akikos braune Augen. »Ja.«
»Ich glaube, dass du auch gerade im Winter deines Lebens bist. Aber auf den Winter folgt immer der Frühling, ganz egal, wie hoch der Schnee liegt.«
»Er liegt sehr hoch. So hoch wie ein Haus.«
»Aber er wird schmelzen. Und wenn es so weit ist, denk dran, dass sich Lächeln und Tränen genau wie die Jahreszeiten immer abwechseln. Was wirst du aus den Tränen lernen? Mit wem wirst du das Lächeln teilen? Wie kannst du deine Mutter stolz machen, indem du ein guter Mensch bist? Das sind die Fragen, auf die du lernen musst, eine Antwort zu finden. Und ich bin sicher, dass du es lernen wirst.«
Wieder nickte Mattie, deren Hand noch in der ihres Vaters lag.
»Danke, Akiko-san«, sagte Ian leise. »Ihre Schüler können sich glücklich schätzen, Sie zu haben.«
»Oh, diese Gedanken teile ich nicht oft mit meinen Schülern. Aber hier, unter neuen Freunden, nach einer Schüssel Nabe, erschien es mir richtig, ja?«
Mattie schniefte und wandte sich zu der Stelle um, an der sie ihren blauen Rucksack abgestellt hatte. Sie öffnete ihn, blätterte ihren Skizzenblock durch und fand das Bild, das sie von den Kirschblüten gemalt hatte. Ihre kleinen Finger zogen vorsichtig an der Ecke des Bildes, rissen das Blatt aus dem Block. »Das ist für Sie«, sagte sie und reichte Akiko das Bild.
Akiko verneigte sich, nahm es entgegen, überrascht über Matties Talent, entzückt über ihr Geschenk. »Das ist wunderschön, Mattie-chan«, sagte sie. »Du erweist mir eine große Ehre, indem du mir etwas so Schönes gibst. Ich habe das nicht verdient.«
Mattie schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass Sie glücklich sind, Akiko-san. Und dass Ihnen mein Bild gefällt.«
»Dein Bild erinnert mich an all diese wunderschönen Frühlingstage. Und ich werde es an einen besonderen Ort in unserem Haus hängen. Wo meine Mutter und ich es sehen und deswegen immer wieder lächeln können.«
»Wirklich?«
»Ja. Und Mattie-chan, bitte glaub mir, wenn ich dir sage, dass du glücklich sein wirst. Dass der Schnee schmelzen wird.«
Mattie blickte ihre Gastgeberin an. Sie wollte Akikos Worten glauben, wiederholte sie im Stillen. Aber sie wusste nicht, ob das Glück wirklich zu ihr zurückkehren würde. Sie hatte sich immer eine kleine Schwester gewünscht, aber das schien jetzt sehr unwahrscheinlich. Sie wollte ihrer Mutter noch so viele von ihren Bildern zeigen, aber das würde sie nicht mehr tun können. Es war, als wäre jeder ihrer Kindheitsträume zu einer Glasflasche geworden, die jemand aus einem fahrenden Wagen geworfen hatte.
Dennoch wollte Mattie versuchen, glücklich zu sein, selbst wenn ihr im Moment Tränen viel vertrauter waren als das Lächeln. Und deshalb bedankte sie sich erneut bei Akiko, trank von ihrem grünen Tee und tat so, als merkte sie nicht, dass ihr Vater sich genauso fühlte und benahm wie sie
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