Ich bin an deiner Seite
Rucksack ab, stellte ihn auf den Boden und ging zu einem Felsen in der Nähe, gegen den er sich lehnte. »Siehst du den Berg da?«, fragte er und deutete auf den höchsten Gipfel.
»Den großen?«
»Das ist der Everest.«
»Wirklich?«
»Du hast es geschafft, Ru. Du bist auf einen hohen Berg gestiegen und du blickst auf den Everest.«
Sie lächelte und sah sich um. »Wow.«
»Willst du meine zweite Überraschung sehen?«
»Was ist es?«
Er ging zu seinem Rucksack, öffnete ein Innenfach und holte eine rote Stoffrolle heraus. Er entrollte das Material, und zum Vorschein kamen zwei Holzstäbe, die in der Mitte mit Angelschnur verbunden waren. Ian drehte sie, bis sie ein Kreuz bildeten. Dann befestigte er den Stoff an den Enden der Stäbe.
»Ein Drache?«, fragte Mattie lächelnd. »Woher hast du den?«
»Aus Kathmandu, Schatz. Ich habe ihn mir von einem Jungen besorgen lassen, als du im Bett warst und Schäfchen gezählt hast. Willst du ihn fliegen lassen?«
»Vielleicht können wir ihn bis zum Everest hochfliegen lassen.«
»Höher als den Everest.« Er streichelte ihren Kopf, dann band er eine Schnur an den Drachen. Der Wind wehte kräftig, und Ian glaubte nicht, dass sie Probleme haben würden, den Drachen fliegen zu lassen. »Du hältst ihn fest, Ru. Und wenn ich es dir sage, dann wirfst du ihn in die Luft.«
»Soll ich ihn fest werfen?«
»Lass ihn einfach nach oben steigen. Ich schätze, du musst gar nicht viel tun.«
»Okay.«
Ian wickelte die Schnur ab und bewegte sich von Mattie weg über das weite, ebene Feld. Er ging in Windrichtung und blieb ungefähr dreißig Meter von ihr entfernt stehen. Der Wind zog an dem Drachen in ihrer Hand. »Lass ihn los!«, rief er und zog die Schnur stramm, während sie den Drachen in die Luft warf. Er trat zurück und hielt die Schnur hoch über seinen Kopf. Einen Augenblick lang sank der Drache zu Boden, und er hatte Angst, er würde abstürzen. Doch dann erfasste der Wind das rote Stück Stoff, und der Drache schwang sich nach oben. Ian jubelte und ging rückwärts, während er weiter über seinem Kopf die Schnur abwickelte.
Mattie fing an zu rennen, weil sie den Drachen selbst fliegen lassen wollte. Aber plötzlich blieb sie stehen. Sie sah ihren Vater vor dem Dorf stehen, vor dem Everest. Sah den blauen Himmel. Den roten Drachen. Den größten Berg der Welt. Und ihren Vater. All diese Dinge waren vor ihr versammelt, und sie wusste, dass sie das für ihre Mutter festhalten musste. Ohne ein Wort rannte sie zurück zu ihrem Rucksack und holte ihren Skizzenblock heraus. Bald malte sie, benutzte ihre Stifte, um die Szene festzuhalten. Ihre Finger bewegten sich schneller als jemals zuvor. Sie hatte Angst, dass der Wind vielleicht aufhörte, dass der Drache herunterfiel. Aber nichts von beidem passierte, und bald hatten ihre Hände blaue und rote und braune Flecken. Sie lächelte, während sie malte, lächelte über das, was sie auf dem Papier sah. Weil das, was sie sah, schön war, weil sie genau wegen dieses Anblicks hier heraufgeklettert war.
Als das Bild fertig war, nahm sie ihren schwarzen Stift und schrieb darunter:
Kannst Du uns sehen, Mami? Wir sind in den Bergen. Wir sind so hoch geklettert, dass wir den Mount Everest sehen. Und er ist wunderschön. Er sieht aus wie ein Eisberg am Himmel. Und wir haben einem Mädchen geholfen. Wir haben das Holz für es getragen und es zum Lächeln gebracht. Wir geben uns Mühe, Mami. Wir tun unser Bestes. Kannst Du uns Hallo sagen? Wir lieben Dich so sehr. Ich war so traurig, vor zwei Tagen im Regen. Aber jetzt bin ich glücklich, obwohl ich Dich vermisse. Ich bin oben auf einem Berg, und Papa lässt einen roten Drachen fliegen. Er winkt mir gerade zu. Er will, dass ich den Drachen auch fliegen lasse. Also muss ich gehen. Bitte vergiss nicht, wie sehr ich Dich liebe. Ich hoffe, Du bist glücklich im Himmel.
Mattie
Sie wandte sich um und suchte nach dem hohen Baum, den sie schon vorher gesehen hatte. Sie lief darauf zu, obwohl ihr Knie noch wehtat. Sie kam an dem Mädchen mit dem Feuerholz vorbei und rief ihr ein Hallo zu. Der Baum war höher als alles andere um ihn herum. Die Nepalesen mussten ihn für heilig halten, denn bunte Gebetsfähnchen waren daran befestigt. Mattie wusste nicht viel über Gebetsfähnchen, nur das, was ihr Vater ihr erzählt hatte – dass die Nepalesen Gebete auf kleine Fähnchen schrieben und sie an hoch gelegenen Orten festbanden, damit der Wind ihre Gebete in den Himmel trug. Als Mattie
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