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Ich bin an deiner Seite

Ich bin an deiner Seite

Titel: Ich bin an deiner Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Shors
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herunterzuklettern, von dem Ort, wo Wiedergeburt so greifbar nah wirkte und doch so fern.

Hongkong
    Schmerz und Freude
    Erst wenn die kalte Jahreszeit kommt, wissen wir,
dass Tannen und Zypressen immergrün sind.
Chinesisches Sprichwort
    Das Hotel erhob sich wie ein Schwert in den Nachthimmel. Das ultramoderne Gebäude war glatt und riesig, überragte das halbe Dutzend Wolkenkratzer daneben. Vierzig Reihen von übergroßen Fenstern boten Gästen einen spektakulären Ausblick auf das Zentrum von Hongkong, das nachts wie seine eigene Solaranlage wirkte, voller brillanter Konstellationen, leuchtender Planeten und untergehender Sonnen. Die Stadt schien vor Farbe und Glanz zu glühen. Die Wolkenkratzer waren nicht nur hohe Rechtecke aus Stahl und Glas, sondern geformte und fließende Gebilde, die von Millionen von grünen, violetten, blauen und roten Lichtern erhellt wurden, in denen sich die Wolken, das nahe Meer und die Berge spiegelten und die eine futuristische Landschaft schufen, die auf den Seiten eines Science-Fiction-Romans hätte entstanden sein können.
    Ian stand in ihrem Hotelzimmer in der Nähe des Fensters und blickte durch ein Fernrohr auf die Welt unter ihm. Vier Hochhäuser standen in seinem direkten Blickfeld, und alle schienen Apartmenthäuser zu sein. Viele hatten große Fenster, und er sah Familien beim Abendessen, beim Fernsehen, um Computer-Flachbildschirme versammelt. Kinder rannten von Zimmer zu Zimmer, während ihre Mütter den Abwasch erledigten. Väter sprachen in ihre Handys und liefen herum wie Löwen im Käfig. Andere Fernrohre drehten sich, während die Leute die Szenerie um sie herum betrachteten.
    Nicht sicher, was er von solchem Voyeurismus halten sollte, blickte Ian weiter in die Nacht. In den Gebäuden in der Nähe mussten reiche Familien leben, denn viele der Wohnungen umfassten eine ganze Anzahl großer Räume. Ian stellte das Fernrohr schärfer und konnte Kinder lächeln und lachen sehen. Er beobachtete zwei Jungen, die einen Papierflieger bastelten und ihn durch ein Familienzimmer warfen. In der Nähe saßen ein Mann und eine Frau, vermutlich die Eltern, und tranken Wein und lächelten über das Spiel ihrer Kinder.
    Ian drehte das Fernrohr, ließ es über erleuchtete und dunkle Fenster gleiten und hielt inne, als ihm klar wurde, dass eine Frau in einem Gebäude gegenüber ihn durch ihr Fernrohr anstarrte. Er trat zurück, nestelte an den Knöpfen seines Pyjamas und legte dann erneut das Auge an das Instrument. Die Frau trug ein schwarzes Cocktailkleid. Ihre Haare waren aufgesteckt, dunkle Locken, die von zwei lackierten Stäbchen hochgehalten wurden. Sie winkte ihm, dann drehte sie ihr Fernrohr in eine andere Richtung.
    Zu Mattie gewandt wollte Ian sie gerade fragen, ob sie auch mal in die Nacht hinaussehen wollte, als ihm klar wurde, dass der Anblick von fröhlichen Familien ihre Stimmung nur noch weiter dämpfen würde. Sie war sehr schweigsam gewesen, seit sie Indien verlassen hatten – eigentlich, seit sie Rupi verlassen hatten. Ian war bewusst, wie schnell Mattie und Rupi eine Verbindung zueinander aufgebaut hatten, ein Band, das vielleicht auf der Einsamkeit gründete, die sie teilten. Nach Kates Tod hatte Ian oft Matties Freunde zum Spielen zu ihnen nach Hause eingeladen, aber mit ihnen wollte sie keine Zeit verbringen. Vielleicht waren sie zu glücklich, ihre Leben zu perfekt. Eines Tages hatte Mattie Ian gebeten, ihre Freunde nicht mehr einzuladen. Sie hatte mit ihm zusammen sein wollen und mit sonst niemandem.
    Wenn Mattie niedergeschlagen war, versuchte Ian normalerweise, sie mit einem Witz oder mit Spielen oder Geschichten aufzuheitern. Aber heute Abend war er zu müde. Er wollte für heute einfach aufgeben. Er hatte keine Kraft mehr, ihr etwas vorzuspielen, so zu tun, als wäre dieser Moment großartig, wenn er das Gefühl hatte, in ein schwarzes Loch gefallen zu sein. Die Familien unter ihnen zu beobachten hatte ihn wieder an all das erinnert, was er verloren hatte.
    Ian ging zur Couch, wo Mattie über ihrer Erdkunde-Lektion saß. Sie trug ihren Schlafanzug, den sie im Zoo in der Bronx gekauft hatten und auf dem eine Collage aus afrikanischen Tieren abgebildet war. Ihre Haare, die nicht zu Zöpfen geflochten, aber gewellt waren von der Erinnerung an das
    Fest-Zusammengefasst-Sein, hingen ihr über die Schultern. Er küsste sie auf den Scheitel und legte den Arm um sie. »Brauchst du Hilfe, Schatz?«, fragte er und küsste sie erneut.
    »Nein.«
    »An was arbeitest

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