Ich bin an deiner Seite
du gerade?«
Sie schloss ihr Buch, bei dem eine Seite mit einer Karte von Indien aufgeschlagen gewesen war. »Wir hätten ihn nicht zurücklassen sollen, Papa. Er ist ganz allein.«
Ian seufzte und rieb sich über die Stirn, wünschte, er hätte eine Magentablette zur Hand. »Ru, vor drei Tagen war er noch obdachlos und hat im Fluss nach Goldzähnen getaucht. Heute Abend schläft er in einem Bett, mit vollem Magen und mit einer Gruppe von netten Jungs um ihn herum. Und er hat sein eigenes Konto, auf dem jede Menge Geld ist. Ich schätze, wir sollten es uns nicht zu schwer machen.«
»Aber was, wenn …«
»Und, Schatz, wir bleiben mit dem Waisenhaus in Kontakt. Wir werden dafür sorgen, dass es ihm gut geht. Und wenn wir wieder in den Staaten sind, dann versuchen wir, eine Familie für ihn zu finden.«
»Wie wäre es mit unserer Familie?«
»Ich kann kein Kind adoptieren, Ru, ohne eine Frau.«
Sie wandte sich von ihm ab. »Dann sind wir keine Familie, oder?«
»Was?«
»Wenn sie uns Rupi nicht geben, dann glauben sie nicht, dass wir eine Familie sind.«
»Jeder, der so was glaubt, ist ein verdammter Idiot«, erwiderte er und lehnte sich von ihr weg, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Das glaubst du doch nicht, oder?«
Sie wischte sich über das Gesicht. »Ich weiß nicht. Ich glaube … vielleicht sind wir eine halbe Familie.«
»Eine halbe Familie?«
»Das denken die. Deshalb geben sie uns Rupi nicht.«
»Was für ein Unsinn.«
»Ist es nicht!«
»Wir haben ihm geholfen, Ru. Kannst du dich nicht darauf konzentrieren?«
»Ich verstehe das nicht. Ich …«
»Denkst du, ich verstehe das alles? Aber ich tue mein Bestes, genau wie du.«
»Ich vermisse Rupi.«
Er seufzte und blickte zur Decke, wollte den Gott verfluchen, der dort oben saß. »Hast du sein Lächeln gesehen? Er war so glücklich wie ein Schmetterling im Wind. Wir haben ihn glücklich gemacht. Du hast ihn glücklich gemacht. Genau wie deine Mutter es wollte.«
»Ich bin aber nicht glücklich. Wir hätten ihn nicht zurücklassen sollen. Wir haben ihn verlassen, genau wie alle anderen.«
Ian spürte, wie Wut in ihm aufstieg. Bevor er seine Stimme erhob und etwas sagte, was er bereuen würde, ging er ins Badezimmer und nahm eine Magentablette. Er blickte sich selbst im Spiegel an und fragte sich, was aus ihm wurde. Er wollte auf die Knie fallen, sich gegen das Waschbecken lehnen und die Augen schließen. Stattdessen kaute er seine Medizin, holte tief Luft und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er umklammerte zwei Haarbüschel mit den Fäusten, und Strähnen fielen heraus, als er die Hände vom Kopf nahm. Mit einem unterdrückten Fluchen nahm er noch eine Magentablette und drückte auf die Spülung an der Toilette, als wäre sie sein Feind.
Er wusch sich das Gesicht und ließ sich mehrere Minuten Zeit, um sich zu beruhigen, dann kehrte er zurück zu seiner Tochter, weil er nicht mit ihr streiten wollte. Weil die Erinnerungen an die Auseinandersetzungen mit Kate wie Stacheln in seiner Seele saßen. »Wollen wir morgen etwas Schönes für Rupi kaufen gehen?«, fragte er und näherte sich ihr. »Wir könnten ihm etwas Neues zum Anziehen kaufen und … vielleicht noch ein paar Dinosaurier? Wir könnten ihm ein Paket schicken, dann hat er es in ein paar Tagen.«
Mattie blickte auf, und ihre Augen wurden groß. »Wirklich? Können wir das machen? Können wir ihm ein paar Dinosaurier kaufen?«
»In dieser Stadt? Ich glaube, da finden wir alles für ihn, was wir wollen. Hast du mal aus dem Fenster gesehen? Es ist, als säße man mitten in einem Weihnachtsbaum.«
Sie blickte nach draußen und nickte. »Können wir das direkt morgen früh machen, bevor wir etwas anderes tun?«
»Sicher, Schatz. Wir gehen auf Dinosaurierjagd. Wärst du gerne mein Ausguck?«
»Aye, aye, Captain.«
Er legte den Arm um sie und dachte an ihre Worte von vorhin, daran, dass sie keine Familie waren. »Lass uns ins Bett gehen«, sagte er, griff nach ihrer Hand und stand auf. »Ich schätze, wenn wir morgen früh aufstehen und Dinosaurier suchen gehen wollen, dann sollten wir jetzt besser schlafen.«
»Okay, Papa.«
Aus einem Impuls heraus hob er sie hoch und trug sie zum Bett, legte sie hinein. Er kroch neben sie und zog die Decke über sie. Sie bat ihn, ihr eine Geschichte zu erzählen, und während er ihre Stirn streichelte, zwang er sich, seine eigenen Zweifel und seinen Schmerz beiseitezuschieben und darüber nachzudenken, welche Fabel er zum Leben erwecken
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