Ich bin dann mal alt
der Emil zur Sperrstunde, lieber nicht auf dem Gehsteig um den Häuserblock heimwärts zu torkeln, weil ihn am Ende die Nachbarn sehen könnten und er Zoff mit seiner Frau kriegen würde. So ging er
durch den Hinterausgang des Wirtshauses schnurstracks auf seinen Garten zu, kletterte mühsam über den Lattenzaun und wankte die letzten paar Meter durch den Garten bis zum Hintereingang seines Hauses.
Gott sei Dank schien in dieser Nacht der Mond, sodass der Emil wenigstens ein bisschen etwas sehen konnte. Plötzlich knisterte es unter seinen Füßen. »Na, so was«, murmelte er ganz überrascht, »heuer ist der Nachtfrost aber schon frühzeitig da!« Auf den eisigen Pfützen unter seinen Füßen spiegelte sich das fahle Mondlicht. Doch die Eisschicht war offenbar noch zu dünn, um ihn zu tragen, sodass er bei jedem Schritt einbrach. Es knirschte und knackte unter seinen Schuhen. Er war froh, als er endlich im Haus drinnen war.
Am nächsten Morgen beim Kaffeetrinken erzählte der Emil seiner Frau Ilse vom Nachtfrost am letzten Abend. »Nachtfrost mitten im August?«, wunderte sie sich, »das gibt es doch nicht!« Sie trat ans Fenster und schaute in den Garten hinaus, ob der Reif noch zu sehen war. Mit einem Mal wurde Ilse ganz weiß im Gesicht: »Die schönen Beete – alles kaputt! «, rief sie entsetzt. Es sah aus, als ob jemand die kleinen Glasscheiben des Winterbeets mit Absicht eingetreten hatte. Seit diesem Tag erwähnte der Emil mit keinem Sterbenswort mehr den ominösen Nachtfrost mitten im August. Und nach dem Wirtshausbesuch nahm er keine Abkürzung mehr durch seinen Garten, sondern torkelte auf dem Gehsteig nach Hause.
Die Mutter aller Tugenden: das rechte Maß
Gesund leben heißt, man soll nichts übertreiben – weder das Essen noch das Schlafen, weder das Beten noch das Denken und das Arbeiten. Alles muss ein gutes Maß haben.
Weiser alter Benediktinermönch
In allen Religionen und Weisheitslehren der Welt gibt es Regeln und Anweisungen, die die Menschen beachten sollten, damit sie sinnvoll leben können. Diese Regeln beruhen auf Erfahrungen, die sich über Jahrtausende hinweg bewährt haben: Lebensmodelle, um Krisen und Konflikte zu bewältigen, um die Menschen vor körperlichen und seelischen Krankheiten zu bewahren, um ihnen den Rhythmus der Schöpfung bewusst zu machen. Meist sind es verblüffend einfache Regeln, die uns Menschen zu einer maßvollen, klugen Lebensgestaltung anleiten wollen. Die zentrale Richtschnur im Leben ist das rechte Maß – es gilt in jeder Lebensphase, ganz besonders aber im Alter, wenn die Kräfte allmählich schwinden.
Doch was ist das rechte Maß? Was für den Gesunden gut ist, kann für den Kranken schlecht sein, was ein Kind braucht, ist für den Erwachsenen vielleicht wenig nützlich, was man in jungen Jahren problemlos bewältigt hat, wird im Alter zur Mühsal. Was für den einen gut ist, schadet vielleicht dem anderen. Für einen geübten Skifahrer ist eine Steilabfahrt kein Problem, während ein Anfänger am selben Hang Kopf und Kragen riskiert.
Die Benediktinermönche bezeichnen das rechte Maß als die »Mutter aller Tugenden«, obwohl es keine eindeutige Definition gibt, was damit gemeint ist. Das rechte Maß ist nämlich kein allgemein gültiges Rezept, sondern von Mensch zu Mensch verschieden. Das macht den Umgang mit dem rechten Maß manchmal schwierig: Sogar im eigenen Leben verändert es sich ständig,
weil sich jeder Mensch im Laufe der Jahre weiterentwickelt, sich von früheren Erfahrungen trennt, neue Erkenntnisse bekommt. Einstellungen, die gestern richtig waren, können morgen schon wieder falsch sein. Der Mensch braucht für eine maßvolle Lebensführung zweierlei: die Beziehung zur Transzendenz, also zur übersinnlichen Welt, und Lebenserfahrungen, aus denen er wie aus einer Schatztruhe Wissen schöpfen kann.
Im Alltag spürst du, dass du das rechte Maß verlassen hast, wenn du einmal über die Stränge schlägst. Intuitiv weißt du dann, dass du etwas falsch machst, wenn du unregelmäßig isst und trinkst, jemanden im Zorn beleidigst, nach Geld oder Sex gierst, dich nicht gegen Unrecht erhebst, jemanden belügst oder betrügst. Noch deutlicher registrierst du, dass du nicht mehr im rechten Maß lebst, wenn sich nachhaltige Störungen, Krankheiten und Leid einstellen, wenn du feststellst, dass du keine Freunde mehr hast, wenn die Beziehungen in deiner Familie schlecht oder gar zerrissen sind. Die Rückkehr zur Ausgewogenheit erfordert, dass wir
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