Ich bin dann mal alt
Menschen unsere Irrwege erst einmal bewusst wahrnehmen. Wir müssen uns also selbst wichtige Fragen beantworten: In welcher Weise und wann habe ich das gute Maß verlassen? Wo habe ich übertrieben? Wo habe ich mich in meinem Verhalten gegen das Leben – mein eigenes und das der anderen – entschieden? Daraus müssen wir Konsequenzen ziehen, um bei uns etwas zu verändern oder sogar eine Umkehr einzuleiten.
Das gute Maß liegt stets in der Mitte zwischen zwei Polen. Natürlich ist es schwer, immer die richtige Balance zu finden. Meistens pendelt der Mensch zwischen den Extremen hin und her und es gelingt ihm nur selten, die Mitte zu halten. Das rechte Maß führt ihn zu Tugenden, die sein Leben bestimmen. Es liegt ausgewogen zwischen Reden und Schweigen, zwischen Offenheit für Einsichten und der Unbeeinflussbarkeit, zwischen Demut
und Selbstvertrauen, zwischen vorschnellem Entscheiden und abwägender Besonnenheit, zwischen vorurteilsfreiem Annehmen und klugem Unterscheiden, zwischen vorsichtigem Handeln und mutiger Zuversicht, zwischen innerer und äußerer Anspruchslosigkeit, zwischen »Flagge zeigen« und bewusster Zurückhaltung, zwischen Gleichmut und Liebe.
Der Mensch, der mit allen Stärken und Schwächen sein Leben zwischen diesen Polen gestaltet, braucht das gute Maß als Grundhaltung, damit er glücklich wird. Er kann lernen, im richtigen Augenblick das jeweils Richtige zu sagen, zu tun oder zu unterlassen. Dafür gibt es keine feste Regel, weil jede Situation anders ist. Um das rechte Maß zu finden, müssen wir vor allem auf unser Herz hören; denn Güte ist wichtiger als Gerechtigkeit. Wenn jemand etwas falsch gemacht hat, dann soll man zwar auf den Fehler hinweisen, dabei aber den Menschen, der ihn verursacht hat, nicht verletzen. Deshalb muss die Reaktion auf Fehler maßvoll sein – in der Arbeit und im Beruf ebenso wie in der Familie, bei Freundschaften und in der Kindererziehung. Es macht wenig Sinn, auf den einzudreschen, der den Fehler gemacht hat. Stattdessen sollten wir ihn lieber wieder aufrichten, um seine Entwicklung zum Besseren zu ermöglichen.
Das gute Maß ist der Schlüssel zum Leben – in Stärken und Schwächen, in Krankheit und Freude, im Glück und in der Trauer. Leben im rechten Maß gibt dem Menschen Frieden und innere Ruhe, eine wunderbare Perspektive fürs Alter! Der schönste Zustand, den ein Mensch erreichen kann, wenn er das richtige Maß für sein Leben gefunden hat, wird in allen Weisheitslehren mit dem gleichen Begriff beschrieben: heitere Gelassenheit.
Die dürre Maus
Die Klostergemeinschaft feierte ein großes Fest: Der Abt des Nachbarklosters war zum ersten Mal nach seiner Weihe zu Besuch gekommen. Alle Brüder freuten sich. Was Küche und Keller bieten konnten, wurde aufgeboten, und alle gaben ihr Bestes, denn dem neuen Abt sollte es an nichts fehlen.
Beim Festmahl im Refektorium saßen vorne am ersten Tisch der gastgebende Abt und sein frischgebackener Amtsbruder aus dem Nachbarkloster, dann der Reihe nach die Mönche, von den älteren bis zu den jüngsten. Während sie das Essen schweigend zu sich nahmen, las wie immer ein Mönch aus der Heiligen Schrift vor – und da passierte es: Unter dem Lesepult tauchte plötzlich eine Maus auf und lief kreuz und quer durchs Refektorium. Alle starrten gebannt auf das kleine Ungeheuer. Was für eine Peinlichkeit: eine Maus im Speisesaal! Aber so schnell, wie die Maus gekommen war, so schnell war sie auch wieder verschwunden.
Natürlich war die Maus im Speisesaal das Gesprächsthema des Tages. Bei der Brotzeit am Nachmittag entrüstete sich der Bruder Metzgermeister: »So etwas war noch nie da! Es ist eine Blamage – Ungeziefer in unserem Refektorium. Wir müssen uns schämen!« Auch die anderen Mönche beklagten den Vorfall und forderten, der Refektoriar solle sofort Mausfallen aufstellen, damit sich die Plage nicht weiter ausbreitete.
Da meldete sich ein alter, weise gewordener Bruder, der früher im Kloster als Pförtner tätig war, zu Wort: »War es eine recht dürre Maus?«
Verwunderung ringsum – keiner verstand, was er mit dieser merkwürdigen Frage meinte. Da sagte der alte Mönch mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht: »Wir müssten uns nur
dann genieren, wenn es eine dürre Maus gewesen wäre. Für eine dicke Maus brauchen wir uns nicht zu schämen. Sie ist ein Zeichen dafür, dass bei uns auch eine kleine Maus das Recht auf ein gutes Leben hat.«
3
Ohne Beziehungen ist das Leben leer
Ein vernünftiger
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