Ich bin dann mal offline
meines Selbstversuchs überwunden hatte. »Uh-hm«, sage ich, während er mir von seiner Woche erzählt. »Aha«, streue ich immer mal wieder ein, während ich mich ziellos durch meine Mailordner, durch eBay-Angebote und OnlineNachrichten klicke. Es ist nicht so, dass ich nicht zuhöre, es ist eher so, dass ich Angst habe, meine Augen könnten sich langweilen, wenn nur meine Ohren mit dem Gespräch beschäftigt sind. Es ist keine wirklich gute Angewohnheit, und mein Vater hat vermutlich einfach nur zu gute Manieren, um mich auf meine schlechten hinzuweisen. Denn ich selbst hasse es, wenn ich merke, dass mein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung in regelmäßigen Abständen mit der Maus klickt. Oder gar heimlich und möglichst leise tippt. Alle Menschen, die ich kenne, hassen das -und trotzdem tun es fast genauso viele Menschen selbst. Vor kurzem hat das berühmte Forschungszentrum MIT in Boston eine Technik entwickelt, mit der man nur anhand der Stimme analysieren kann, wie aufmerksam jemand am Telefon der Unterhaltung folgt. »Jerk-O-Meter«, also Idiotometer, hat der erfreulich humorvolle Entwickler Anmol Madan seine Analysesoftware genannt, die jedem geistig Abwesenden sofort auf die Schliche kommt. Tonlose Stimme, zu lange Pausen vor Antworten, zu viel nichtssagendes Zustimmungsgebrumme -zack!
Schon ist man als rücksichtsloser Rüpel enttarnt, der nebenher E-Mails schreibt, den Sportteil liest oder ohne Ton »Germany's Next Topmodel« guckt. Bislang gibt es die Software nur im wissenschaftlichen Testbetrieb -und es ist vermutlich aus ethischen Gründen nur möglich, seine eigene Stimme zu analysieren, nicht heimlich die des Gesprächspartners. Doch wenn es das »Jerk-O-Meter« irgendwann als herunterladbare App für jedes bessere Telefon geben sollte -dann Gnade mir Gott!
Tag 55 Zurück im Online-Alltag
Jessica hat ihren Job in Hamburg beendet, und wir sind wieder gemeinsam in Berlin. Eine der größeren Veränderungen, die ihr auffällt: »Wie oft das Festnetztelefon inzwischen klingelt! «
»Nervt es dich?«, frage ich sie. Denn mir ist es gar nicht richtig aufgefallen, dass auch nach dem Ende meines Selbstversuchs viele Leute, die sich früher nur per Handy oder E-Mail gemeldet haben, einfach weiterhin dort anrufen.
»Nein, gar nicht«, sagt sie. »Ich find's schön. Es zeigt, dass jemand gerade an uns denkt.«
Es ist jetzt zwei Wochen her, dass ich meinen Selbstversuch beendet habe. In vielen Dingen bin ich erschreckend schnell wieder in alte Gewohnheiten zurückgefallen: Wenn ich am Computer sitze, springe ich wieder mit CTRL-TAB zwischen den einzelnen Fenstern hin und her, ohne jedes Mal genau sagen zu können, warum eigentlich. Ein bissehen so, als wollte ich nachsehen, ob noch alle da sind. Wenn ich mit jemandem länger telefoniere, kann ich immer noch nicht die Finger von Maus und Tastatur lassen. Und immer noch muss ich mich, nachdem ich mich eine Stunde von Googlesuche zu Googlesuche und von Link zu Link gehangelt habe, daran erinnern, dass ich das, was ich ursprünglich gesucht, schon vor 55 Minuten gefunden hatte -und alles, was danach kam, nur noch in die Kategorie »Ach, das ist aber auch ganz interessant« fällt.
Ich finde das aber im Grunde gar nicht so schlimm. Immerhin ist es mir durch den Selbstversuch zum ersten Mal seit Langem wieder so richtig bewusst geworden. Ein wenig erinnert es mich daran, wie ich vor Jahren nach einer Woche des Heilfastens plötzlich mehr darüber nachdachte, wann, wie viel und vor allem was ich aß. Ich hatte nicht nur den Eindruck, plötzlich intensiver und differenzierter schmecken zu können, sondern auch weniger Lust auf ungesundes Fast Food und dafür größeren Appetit auf Obst und Gemüse. Lange hielt der Effekt jedoch nicht an, schätzungsweise nach einem Monat schaufelte ich wieder Gyrosteller oder Leberkäse in mich hinein, als wäre nie etwas gewesen. Als ich ein Jahr später erneut eine Heilfastenwoche plante, kündigten plötzlich mehrere meiner damaligen Kollegen an, in dieser Zeit Urlaub einreichen zu wollen. Auf meine Frage, ob ein Zusammenhang zu meiner Tee-undSaft-Askese bestünde, erfuhr ich etwas, das ich selbst nicht für möglich gehalten hätte: »Du warst noch nie so schlecht gelaunt wie in dieser Woche«, rückte ein Kollege irgendwann mit der Sprache heraus. Ich hatte zwar gelesen, dass manche Menschen während des Fastens dünnhäutiger und gereizter waren, hatte aber den Eindruck gehabt, davon vollkommen verschont
Weitere Kostenlose Bücher