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Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg

Titel: Ich Bin Dann Mal Weg: Meine Reise Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hape Kerkeling
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Spaniern und mir wohnt hier niemand. Wir vier haben das ganze Kloster für uns. Der Ort und die Pilgerherberge sind ehrlich gesagt nicht der Erwähnung wert, aber das Real Monasterio, in welchem der Märtyrer Zoilo begraben ist, gehört nicht ohne Grund zum Weltkulturerbe. Obwohl es eigentlich nicht von dieser Welt ist.
    Alfons der VI., Alfons der VII. und Alfons der VIII., alles Könige von Spanien, haben sich hierhin nach ihrer Abdankung zurückgezogen. Verständlich. Dieser Ort ist wie Balsam für den geschundenen Körper und die müde Seele.
    Klöster beeindrucken mich mehr als Schlösser, denn die sind meist nur protzig. Ein Kloster verbindet Prunk und Bescheidenheit in perfekter Harmonie. In Carrión de los Condes ist die Vereinigung der beiden scheinbaren Gegensätze besonders gut gelungen.
     
     
    Real Monasterio San Zoilo, Rückzugsort für Könige und Pilger  
     
    Beim Spazieren durch den großen menschenleeren Kreuzgang kommt mir wieder in den Sinn, dass auf dem Jakobsweg die Außenwelt oft mein Innenleben widerspiegelt. Allerlei skurrile Figuren und Symbole sind in die Säulen gemeißelt. Also frage ich mich: »Welche Bedeutung hat der Kreuzgang dieses Klosters für mich? Was erzählt er mir über mich?«
    Ich setze mich auf eine Bank in den Schatten und betrachte in aller Ruhe die Säule vor mir. Ein Totenkopf glotzt mich an. Das passt, denn ich bin todmüde und dadurch sehr gelassen, also wehre ich mich nicht gegen die nun aufsteigenden Assoziationen.
    Totenkopf... Ich kann hier also über das Sterben und den Tod nachdenken? Mein Blick geht hinauf zur großen Turmuhr; sie steht. Die Zeit steht hier also. Ich kann mir also Muße zum Meditieren nehmen.
    Exakt um sechs Uhr siebzehn ist die Uhr stehen geblieben, also irgendwann in der Morgen- oder Abenddämmerung. Ich sitze auf einer Bank im Schatten und schaue auf einen Totenkopf. Sollte ich etwa auf dem Weg durch mein eigenes Schattenreich schreiten und symbolisch sterben? Die Turmuhr steht...Versuche ich vielleicht gar die Zeit anzuhalten und verhindere dadurch in meinem Leben, dass es Nacht wird, und somit, dass es einen neuen Morgen geben kann?
    Wer erleuchtet werden will, muss wahrscheinlich erst mal das totale Gegenteil erleben: die Verfinsterung.
    Ich muss meine Schattenseiten genauer betrachten. Wie sieht meine Nacht aus? Was kriege ich da zu sehen? Der gregorianische monotone Gesang und meine leuchtende Erschöpfung treffen im richtigen Moment aufeinander. Also lasse ich es in meiner Meditation jetzt Nacht werden. Meine Nacht, die hereinbricht. Allerlei Fratzen und Verzerrungen tauchen da auf, eben meine Schatten. So sitze ich still und lasse das Spektakel so gleichgültig wie möglich an mir vorbeiziehen.
    Später gehe ich etwas benebelt auf die andere Seite des Kreuzgangs und setze mich wieder auf eine Bank. Diesmal in die Sonne. Ich blicke auf die Säule vor mir. Dort ist ein Neugeborenes in den Stein gehauen. Sterben, um neu geboren zu werden, kommt mir natürlich sofort in den Sinn. Durch die Nacht auf den Morgen zugehen. Die wesentlichen Merkmale des Lebens sind Geburt und Tod. Sie wechseln sich unentwegt ab und machen eigentlich das Leben aus.
    Aufstehen – Schlafengehen, Arbeitsbeginn – Arbeitsschluss, Ausbildungsbeginn – Rentenbeginn. Alles beginnt und hört wieder auf, obwohl es immer Jetzt ist und eigentlich alles in einem einzigen gigantischen Moment passiert.
    Vom Kreuzgang begebe ich mich in die Kathedrale. Dort bin ich alleine und beobachte, wie eine Taube auf den Altar zufliegt. Direkt darüber hängt das riesige Kruzifix und zum ersten Mal nehme ich bewusst wahr, dass der Gekreuzigte eindeutig in eine Richtung schaut. Von uns aus gesehen, schaut Jesus Christus auf den meisten Darstellungen nach links. Nach Westen. Dem Sonnenuntergang, der Nacht, dem Tod entgegen.
    Aber aus seiner Sicht schaut er nach rechts, nach Osten. Dem Sonnenaufgang und dem Leben entgegen. Das, was uns wie ein düsteres Ende erscheint, ist für ihn in Wahrheit der strahlende Anfang. Und ganz zweifelsfrei kann nur seine Wahrnehmung als die richtige angesehen werden. Unsere ist die falsche Sichtweise. Vollends zu begreifen ist das für einen Menschen sicher nicht.
     
     
    Der Kreuzgang in Carrión de los Condes  
     
    Wir müssen alle auf die eine oder andere Weise unweigerlich durch unsere Nächte wandern und besser, wir tun es freiwillig und gleichmütig, als dass wir vom Schicksal unweigerlich in sie hineingezwungen werden, denn sie sind ein

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