Ich bin dein, du bist mein
duldet.
Sie sitzen in der kleinen Aussegnungshalle. Der Vater trägt einen Anzug, der ihm viel zu klein ist. Das graue Jackettspannt über dem Bauch, die schwarze Krawatte ist zu kurz und nachlässig gebunden. Schweiß rinnt ihm über die geröteten, grobporigen Wangen. Es riecht so stark nach Rasierwasser, dass dem Jungen schlecht wird.
Auf dem Eichensarg liegt ein Gebinde aus weißen Rosen, davor ein Kranz mit einer Schleife: »In ewigem Angedenken, Walter und Daniel.« Bis auf den Beerdigungsunternehmer und einige ältere Frauen, die wie Totenkrähen in der letzten Reihe sitzen, ist die kalte Halle leer. Der Pfarrer wirkt müde. Seine Ansprache klingt wie einstudiert.
Der Junge war vorher noch nie bei einer Beerdigung. Er würde gerne die Hand seines Vaters nehmen, doch der hält die ganze Zeit die Arme vor der Brust verschränkt und starrt auf seine Füße.
Es läuft Orgelmusik vom Band, die großen Panelfenster werden beiseitegeschoben und sechs Männer, die wie Zugschaffner aussehen, rollen den Sarg auf einem ungeschmückten schwarzen Wagen über einen Kiesweg zum offenen Grab.
Als der Junge vor der Grube steht und der Sarg hinabgelassen wird, kann er endlich weinen. Der Vater steht stumm neben ihm. Er legt nicht einmal die Hand auf die Schulter des Jungen. Er dreht sich einfach um und geht. Der Kies knirscht unter seinen Schuhen.
Der Junge sieht ihm nach, schaut ins Grab und wischt sich über die Augen. Zwei Namen stehen auf dem Holzkreuz.Der eine ist der Name seiner Mutter. Den anderen kennt er nicht, obwohl sie denselben Nachnamen haben. Doch er erinnert ihn an
Rot.
Warmes Rot.
Gabriel öffnete die schwere, hölzerne Haustür und trat hinaus in die Abenddämmerung. Seine Finger suchten in den weiten Taschen seiner Hose nach Zigaretten und Feuerzeug. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören. Zwei Schachteln am Tag konnte er sich schlichtweg nicht leisten. Und er kannte sich. Vielleicht eine Woche lang würde er sich auf drei Zigaretten am Tag beschränken können, dann würde er im Nu wieder sein altes Pensum erreichen. Aber das war ihm jetzt egal. Er musste um jeden Preis diese schreckliche Anspannung lösen, und am einfachsten gelang das mit alten Gewohnheiten. So ungesund sie auch sein mochten.
Gabriel schlenderte den Weg hinunter zu dem großen, schmiedeeisernen Tor, das rostig und schief in den Angeln hing und seit Jahren nicht mehr geschlossen worden war. Efeu und wilder Wein rankten sich um die Pfeiler, von denen der Putz abgeblättert war, sodass die roten Backsteine zu sehen waren. Zwischen wild wucherndem Brombeergestrüpp rostete ein alter Heuwender vor sich hin. Gabriel hasste das Haus, in dem er lebte. Zu viele ungute Erinnerungen, zu viele böse Geister aus der Vergangenheit umgaben ihn hier. Früher war alles einmal ein Bauernhof gewesen. Die ungenutzte Scheune und die Ställe gab es noch. So viele schreckliche Dinge waren hier geschehen. Aber er hatte es einfach nicht übers Herz bringen können, diesen Teil seiner Vergangenheit zu verkaufen. Denn diese Vergangenheit hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war. Und darauf war Gabriel stolz.
Ich habe mich nicht brechen lassen.
Ich bin stark.
Und bald werde ich nicht mehr alleine sein.
Alles verlief nach Plan. Er konnte beginnen, das Haus für sie herzurichten. Es würde ihr hier gefallen, dessen war er sich absolut sicher. Sie beide würden zusammen ihre eigene Welt erschaffen. Eine Welt, in der sie einander genug sein würden. Sie würde im Glanz seiner Liebe erblühen wie eine Blume, die den Sommer herbeisehnt.
Es würde ihr hier an nichts fehlen.
Sie würde ihr altes Leben nicht vermissen.
Dafür würde er sorgen.
Nach der Schule, auf dem Weg zur Bushaltestelle, sah Judith Jan allein an der Straßenecke stehen, wo er offensichtlich schon länger gewartet hatte. Vor den wiederkehrenden, heftigen Regengüssen hatte er Schutz unter einem Baum gesucht. Trotzdem klebte ihm das dunkle lange Haar am Kopf, die dünne beige Jacke hatte sich an den Schultern dunkel verfärbt. Sein blauer Schulrucksack stand zu seinen Füßen, die Riemen hingen in einer Pfütze.
Judith wollte gerade diskret umkehren und einen anderen Weg einschlagen, als Jan den Blick hob. Er nahm die Ohrstöpsel raus und drückte eine Taste auf seinem Handy.
Judith würdigte ihn keines Blickes und wollte rasch an ihm vorbei. Doch er schnappte seinen durchweichten Rucksack und warf ihn über die Schulter. »Judith«, rief er, »warte auf
Weitere Kostenlose Bücher