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Ich bin die Nacht

Ich bin die Nacht

Titel: Ich bin die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ethan Coss
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der niemals endet.«
    Ackerman gab keine Antwort, aber bei jedem tiefen Einatmen blähten sich seine Nasenlöcher.
    Als Emily ihn anschaute, versuchte sie, nicht den Mörder zu sehen, der ihr den Mann genommen hatte, sondern den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war. Sie musste ihren Hass loslassen. Seine unvergossenen Tränen glänzten im blassen Schimmer des Taschenlampenstrahls. »Sie brauchen das nicht zu tun«, sagte Emily. »Sie könnten …«
    »Sie wissen gar nichts über mich«, fiel Ackerman ihr ins Wort. »Aber Sie haben recht. Sie können sich nicht vorstellen, wie es war, im Haus meines Vaters zu leben. Das spielt allerdings keine Rolle. Die Taten meines Vaters mögen der Brennstoff gewesen sein, aber die Flamme war von Anfang an da. Ich gebe ihm nicht die Schuld daran, wie alles gekommen ist. Ich bin, wie ich bin. Ich bin kein Mensch, ich bin ein Monstrum. Ich könnte niemals sein wie Sie. Ich könnte niemals normal sein – mit geregeltem Job, eigenem Häuschen mit weiß gestrichenem Zaun am Vorgarten, zwo Komma fünf Kindern und einer Hypothek. Was ich will, spielt keine Rolle. Und wenn ich mir wünschte, die Dinge wären anders, hilft mir das nicht, denn ich kann eh nichts ändern. Die Vergangenheit ist nicht zu korrigieren, und wenn die Finsternis sich erst in Ihrer Seele eingenistet hat, bekommen Sie sie nie wieder heraus. Ich kann nicht reingewaschen und rehabilitiert werden. Woran ich leide, ist unheilbar. Mir ist es bestimmt, so zu sein, wie ich bin. Das ist mein Schicksal.«
    Einen Augenblick lang schwiegen beide.
    Dann sagte Emily: »Als ich elf war, gab es einen kleinen Jungen, der mich jeden Tag schikaniert hat. Er beschimpfte mich als Schlitzauge und Reislutscher und noch viel Schlimmeres. Eines Tages stieß er mich zu Boden und trat auf mich ein. Ich zitterte vor Wut. Als ich aufsprang, hielt ich einen Stein in der Hand. Ich schlug ihn damit, so fest ich konnte. Er ging zu Boden. Ich dachte zuerst, ich hätte ihn umgebracht, doch er hatte nur eine Beule am Kopf. Aber wissen Sie was? Es hat mir kein bisschen leid getan, als ich dachte, er sei tot, und ich fühlte mich auch nicht schuldig. Ich war froh. Ich hatte ein Hochgefühl. Eine Sekunde lang hoffte ich sogar, er wäre tot. Ich fühlte mich mächtig, unbesiegbar. Die Dunkelheit, von der Sie immer reden, wohnt in uns allen. Sie haben bloß nie gelernt, wie man sie bezwingt. Im Gegenteil, Ihr Vater hat Sie gezwungen, die Dunkelheit in Ihrem Innern zu umarmen.«
    Ackerman dachte über ihre Worte nach. Dann lächelte er sie an, und seine Miene veränderte sich auf seltsame Weise. Emily fragte sich, ob es das einzige Mal in seinem Leben war, dass er aufrichtig lächelte, in seinem Innern und äußerlich.
    »Ich bin froh, dass Ihr Mann mich überlistet und Sie gerettet hat«, sagte er. »Das hat mich zum Nachdenken gebracht. Seitdem frage ich mich, ob alle Dinge aus einem bestimmten Grund geschehen. Vielleicht haben wir alle eine Rolle zu spielen. Vielleicht haben Sie Ihre Bestimmung auf Erden noch nicht erfüllt, und deshalb durften Sie noch nicht sterben. Nicht, dass Ihr Überleben die Existenz Gottes beweist …«
    »Vielleicht möchte Gott gar nicht, dass seine Existenz bewiesen werden kann«, erwiderte Emily. »Dann bräuchten wir keinen Glauben.«
    Ackerman schien über ihre Worte nachzudenken. »Ich danke Ihnen«, sagte er schließlich.
    »Wofür?«
    »Dass Sie mit mir reden, als wäre ich ein normaler Mensch. Sie sind die Einzige, die das je getan hat. Ich bin übrigens nicht hier, um Sie zu töten.«
    »Weshalb sind Sie dann gekommen?«
    »Eine Glaubenssache.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Ich bezweifle, dass Sie es verstehen würden.«
    Ackerman zog ein Feuerzeug aus der Tasche und ergriff eine Flasche, aus deren Hals ein Lumpen ragte. Dann knipste er die Taschenlampe aus.
    Als die Dunkelheit zurückkehrte, keimte Furcht in Emily auf, doch es gelang ihr, sie niederzukämpfen.
    Mir kann nichts geschehen. Heute Nacht sterbe ich noch nicht. Ich spüre es. Ich weiß es.
    »Was haben Sie vor?«, wollte sie von Ackerman wissen.
    Er hob sie vom Boden hoch. »Ich erfülle meine Bestimmung.«

64.
    Als Marcus das fünfte und somit oberste Stockwerk erreichte, schlug ihm Benzingestank entgegen. Er leuchtete in den Hauptkorridor und suchte Deckung im ersten Zimmer. Er wünschte sich, er hätte ein Nachtsichtgerät dabei, denn die Aussicht, mit eingeschalteter Lampe dem Gang zu folgen, gefiel ihm kein bisschen. Das Licht verriet seine

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