Ich bin eine Nomadin
Mutter, eine Amerikanerin aus einer zerrütteten Familie, die Yaser Said mit fünfzehn geheiratet hatte, sagte der Polizei, dass sie am ersten Weihnachtstag mit den Töchtern aus ihrem Haus in Lewisville geflüchtet sei, weil sie Angst gehabt habe, Yaser Said würde sie umbringen. »Ich, Mina und Mama laufen weg!«, schrieb Sarah Said in einer SMS an eine Freundin. »Dad fand das mit Mina heraus und wird uns umbringen.«
Ein paar Tage später knickte ihre Mutter ein. Sie brachte Amina und Sarah zurück nach Lewisville und überredete sie, mit ihrem Vater in ein Restaurant zu gehen, damit sie zu dritt miteinander reden konnten. Gut eine Stunde später wählte Sarah, die jüngere, den Notruf und sagte, sie liege im Sterben.
Auf die Tragödie bin ich im Internet gestoßen. Die Story erfüllte mich mit Schmerz und Zorn, diese Mädchen hatten ein so vielversprechendes Leben vor sich und wurden sinnlos ermordet. Sie waren beide gute Sportlerinnen, beliebt; ihre Seiten bei MySpace zeigten sie in ihrer ganzen Schönheit, mit leuchtenden Augen und in lustigen Posen: Allerdings glaubte ich in Aminas Augen Traurigkeit zu entdecken.
Einst hatte ich vor meiner eigenen Familie fliehen müssen, um meinem Schicksal als muslimisches Mädchen zu entrinnen. Ich ging allein nach Europa, ließ ein Leben der Beschränkungen und Drohungen hinter mir. Ich zerschnitt die Blutlinie, die mir meine Großmutter eingetrichtert hatte. Ich lehnte die Vorstellung ab, dass der einzige Sinn meines Daseins sei, mein Leben lang anderen zu dienen und ihre Ehre hochzuhalten. Früher oder später wird es mir wohl nicht mehr wehtun, wenn ich eine Verräterin genannt werde. Aber diese Teenager kamen in den Vereinigten Staaten zur Welt, für sie hätte es doch ganz einfach sein müssen. Außerdem hatten sie ihren Freunden von ihrer Angst erzählt, sie sagten voraus, was passieren würde. Aber niemand hat sie ernst genommen, weil niemand glaubte, dass in Amerika so etwas passieren kann.
Im Februar 2008 sollte ich nach Texas fahren und an der University of North Texas sowie auf einem Treffen des World Affairs Council in einem Hotel in Dallas Vorträge halten. Ich dachte, dass ich etwas über die Morde herausfinden könnte. Ich ging davon aus, dass die Menschen darüber reden würden, denn der Tatort lag kaum zehn Meilen von dem Hotel entfernt, in dem ich ein Zimmer genommen hatte. Also erkundigte ich mich überall, wo ich hinkam, danach.
Aber so gut wie niemand hatte überhaupt etwas von dem Mord an Amina und Sarah Said gehört. Zu meiner Erleichterung nickte wenigstens ein einziger Journalist, als ich den Fall erwähnte. Die anderen hingegen waren völlig perplex. Ein Ehrenmord? In Dallas? In Texas? In Amerika?
Sie wussten nichts darüber. Sie waren ehrlich bestürzt, erschrocken über ihre Unwissenheit. Amerikaner geben oft in aller Unschuld und Offenheit zu, wenn sie etwas nicht wissen, was mich immer noch erstaunt. (In meiner somalischen Erziehung wurde mir beigebracht, mich zu schämen, wenn ich etwas nicht wusste, und es nach Möglichkeit zu verheimlichen.)
Der Mord an den beiden Schwestern hatte in den lokalen Medien in der Tat kaum Aufmerksamkeit erregt. So gut wie alle Journalisten legten in ihren Artikeln Wert auf die Feststellung, dass es sich hier nicht um einen Ehrenmord handle, und selbst wenn es doch ein Ehrenmord sein sollte, habe er nichts mit dem Islam zu tun. Jeder Artikel zitierte Aminas und Sarahs Bruder, einen hageren Neunzehnjährigen namens Islam Said mit den Worten: »Warum muss es jedes Mal, wenn ein arabischer Vater eine Tochter umbringt, gleich ein Ehrenmord sein? Das hatte damit überhaupt nichts zu tun.«
Das genügte offenbar den Reportern, um den Gedanken zu verwerfen, der Mord an den Mädchen sei als Ehrenmord zu bewerten. Selbst das FBI scheute sich, den Begriff zu verwenden. Anfangs hieß es auf seiner Website noch, Yaser Said werde wegen eines Ehrenmords gesucht, aber dann wurde das Wort schleunigst gestrichen, nachdem muslimische Gruppen daran Anstoß genommen hatten.
Das zeigt natürlich nur, wie Selbstzensur funktioniert. Wir wollen auf keinen Fall jemanden kränken. Wir wollen nicht respektlos erscheinen. Und wir haben Angst vor einer möglichen Vergeltung.
Aber man wird ein Problem nie lösen, wenn man es sich nicht klar vor Augen führt. Wenn man die Rolle ignoriert, die der Ehrbegriff – und der Islam – so gut wie sicher bei dem Mord an den Schwestern Amina und Sarah Said spielte, dann lässt man zu,
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