Ich bin eine Nomadin
staatliche Behörden über diese spezielle Form der häuslichen Gewalt aufzuklären. Staatsbürger und Vertreter der Staatsmacht stellen jedoch immer wieder fest, dass ihnen sofort der Vorwurf der Islamophobie und des Rassismus entgegenschlägt, wenn sie solche Themen ansprechen. In den Niederlanden forderte ich beispielsweise die Einführung eines Kontrollsystems, um Genitalverstümmelungen zu verhindern. Ein solches System wurde auch entwickelt, aber auf freiwilliger Basis, was absurd ist, weil eine Mutter, die überzeugt ist, dass sie gemäß der heiligen Sitte ihrer Tradition richtig handelt, sich nicht melden und sagen wird: »Ich habe soeben etwas getan, was mich für fünfzehn Jahre ins Gefängnis bringt.«
Wohlmeinende Menschen sehen mich an diesem Punkt manchmal mitleidig an, als wollten sie mir die Hand tätscheln. In den seltensten Fällen sind sie so unhöflich, es offen zu sagen, aber sie halten diesen Kampf ganz eindeutig für aussichtslos: Es gibt keine Möglichkeit, die Hälfte der derzeitigen muslimischen Bevölkerung auf der Welt zu befreien.
Ich habe beschlossen, nicht in diese defätistische Haltung zu verfallen. Ich bin überzeugt, dass es möglich ist, diese Kultur mit ihrem überholten Ehrbegriff auszurangieren. Wer anders denkt, erklärt Muslime per se für unfähig zu Wachstum und Anpassung, und ich kann mir kaum eine stärker abwertende und rassistische Einschätzung vorstellen. Um einen echten Wandel zu erzielen, sind zweifellos massive Veränderungen in der Einstellung nötig: die Aufgabe eines ganzen Gerüsts von religiösen Denkweisen und Stammeswerten. Aber genau deshalb brauchen wir dringend einen neuen Feminismus, der für muslimische Frauen attraktiv ist. Die militant männerfeindliche Tendenz mancher Feministinnen ist mir ein Gräuel und in meinen Augen eine Verzerrung der Botschaft von Mary Wollstonecraft. Der Feminismus im 21. Jahrhundert muss sich bemühen, die Kluft zwischen westlichen Frauen und jenen zu überbrücken, die sie zurückgelassen haben. Genau wie sich die freien Denker und die Freiheitsliebenden auf der Welt einst zusammenschlossen, um den Kampf gegen die Apartheid zu unterstützen, sollten wir uns nun zusammenschließen, um die Rechte der Frauen im Islam zu stärken.
Als ich im Jahr 2008 im Fernsehen den Wahlkampf der Kandidatinnen Hillary Clinton und Sarah Palin verfolgte, die sich um die beiden wohl mächtigsten Ämter auf der ganzen Welt bewarben, wartete ich gespannt auf den Moment, in dem sie darüber sprechen würden, was sie für andere Frauen tun wollten. Ich sehnte mich geradezu nach dem Augenblick, wo jemand diese Frage stellen und eine ernsthafte Debatte über die Rechte muslimischer Frauen provozieren würde. Ich wartete vergebens.
Inzwischen ist Hillary Clinton amerikanische Außenministerin, vor ihr hatten bereits Condoleezza Rice und Madeleine Albright das Amt inne. Stillschweigend ist es in Washington offenbar inzwischen Konsens, dass das Außenministerium von einer Frau geleitet werden soll. Manche beklagen sich, das sei nur eine halbe Sache, um Frauen zu beschwichtigen, weil wir in Wirklichkeit die Präsidentschaft anstreben. Aber ich bin anderer Meinung. In meinen Augen birgt eine Frau auf dem Posten des Außenministers eine enorme Chance. Das heißt, dass eine Amerikanerin mit den Staatschefs der übrigen Welt, auch der arabischen und muslimischen Welt, an einem Tisch sitzt und nicht nur als ebenbürtige Partnerin, sondern als Repräsentantin der einzigen verbliebenen Supermacht behandelt wird.
Die Befreiung der Frauen gleicht einem riesigen, halb fertigen Haus. Der westliche Flügel ist bereits weitgehend vollständig. Die meisten Frauen, die in diesem Teil leben, genießen Privilegien wie das aktive und passive Wahlrecht. Wir haben Zugang zu Bildungseinrichtungen und können selbst für unseren Lebensunterhalt sorgen, wenn wir wollen. Es ist uns gelungen, die meisten Gesetzgeber in diesem Teil des Hauses zu überzeugen, dass häusliche Gewalt, sexuelle Belästigung und Vergewaltigung Verbrechen sind, für die der Täter bestraft werden muss. Wir haben das Recht, über unseren Körper und unsere Sexualität zu bestimmen: Die Eltern, Lehrer und führenden Repräsentanten einer Gemeinschaft dürfen eine junge Frau zwar beraten, aber sie unternehmen keinen Versuch, sie zu einer Beziehung zu einem Mann zu zwingen oder sie davon abzubringen (neuerdings auch nicht von einer Beziehung zu einer Frau). Heiratskandidaten dürfen um sie werben und
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