Ich bin eine Nomadin
ihr den Hof machen, müssen es aber akzeptieren, wenn sie abgewiesen werden.
Wie in allen Häusern läuft auch im westlichen Teil des Gebäudes nicht immer alles glatt. In manchen Fällen wird die Hausordnung nicht eingehalten. Die Beschwerden der Mädchen über häusliche Gewalt werden ignoriert, geleugnet oder der Täter kommt mit einer Verwarnung oder einer für den angerichteten Schaden viel zu geringen Strafe davon. Manche Frauen haben womöglich den Eindruck, dass sie nicht den gleichen Lohn für die gleiche Arbeit wie ihre männlichen Kollegen erhalten; andere stellen fest, dass sie bei ihrem Aufstieg an eine gläserne Decke stoßen. Somit trachten manche Frauen danach, die Hausordnung um neue Vorschriften zu ergänzen und alle gläsernen Decken zu zerschlagen.
Wenn man jedoch den Ostflügel betritt, kann man das, was man dort vorfindet, noch nicht einmal unfertig nennen. Teile davon wurden begonnen, wurden dann aber im Stich gelassen und verfallen inzwischen wieder. An anderen Stellen kommt jedes Mal, wenn eine Wand hochgezogen wurde, jemand daher und reißt sie wieder ein. In einem eigentlich wunderschönen Hof liegen flache Gräber von namenlosen Mädchen, die starben, weil ihre Eltern es nicht für wert hielten, sie zu ernähren oder sie wegen einer gewöhnlichen, heilbaren Krankheit behandeln zu lassen. Im Ostflügel werden Mädchen, häufig noch ganz jung, als Besitz von ihren Eltern weitergereicht, um die sexuellen Triebe der Erwachsenen zu befriedigen. Es gibt Mädchen, die von morgens bis abends das Land bebauen, Wasser holen, das Vieh versorgen, kochen und putzen, ohne für ihre Plackerei einen Cent zu bekommen, andere werden von ihren engsten Angehörigen ungestraft geschlagen. Junge Frauen sterben bei der Geburt ihres Kindes, weil es an der grundlegenden Hygiene und medizinischen Versorgung mangelt.
In manchen Winkeln des Ostflügels sind Frauen nicht hocherfreut, wenn sie von ihrer Schwangerschaft erfahren. Ein Arzt wird prüfen, ob das ungeborene Kind ein Mädchen oder ein Junge ist. Wenn es ein Mädchen ist, nimmt er das Geld der verzweifelten Mutter und treibt es ab, und wenn sie sich die Abtreibung nicht leisten kann, wird das Kind gleich nach der Geburt erstickt oder sich selbst überlassen. Die Ausrottung von Mädchen wird in manchen Räumen so systematisch betrieben, dass unzählige Jungen vergeblich nach einer Braut Ausschau halten werden.
Näher beim Zentrum des Ostflügels sind die meisten Frauen von öffentlichen Räumen und Plätzen ausgeschlossen, und wenn man sie doch einmal zu Gesicht bekommt, sind sie von Kopf bis Fuß in dunkle, hässliche Gewänder gehüllt. Viele lernen niemals lesen und schreiben; sie werden zu einer Heirat gezwungen und leben von da an mehr oder weniger in ständiger Schwangerschaft. Sie haben kein Recht über ihren Körper. Wenn sie vergewaltigt werden, liegt die Beweislast bei ihnen. In manchen Räumen werden Frauen und gerade mal dreizehnjährige Mädchen wegen Unzucht geprügelt und öffentlich gesteinigt. An der Ostseite des Gebäudes wiederum haben manche Menschen so große Angst vor der Sexualität einer Frau, dass sie Mädchen die Genitalien abschneiden, verstümmeln und ihnen eine Art Brandzeichen aufdrücken.
Heutzutage finden viele Menschen aus dem Ostflügel den Weg auf die andere Seite des Gebäudes, selbst wenn es nur das enge Zimmer des Dienstmädchens ist. Hier im Westflügel erscheint das Schicksal der Frauen im Ostflügel weit weg. Und während die Frauen im Westflügel immer noch vollauf mit so elementaren Fragen wie dem Ton der Wandfarbe, der Größe der Kerzenleuchter und der Form der Gartenhecken beschäftigt sind – ganz zu schweigen von der lästigen gläsernen Decke –, nehmen Männer aus dem Ostflügel Räume im Westen für sich in Anspruch, wo sie ihre östlichen Sitten praktizieren wollen.
Ich saß in meinem Büro in New York, hoch über dem großen Drehkreuz des Westflügels, und träumte davon, dass sich reiche Frauen aus dem Westen eines Tages zusammenschließen und die Befreiung der Bruchbuden im Ostflügel zu ihrem großen Ziel erklären. Sie könnten die Anführer sein beim Bau eines neuen Gebäudes der Freiheit, der Stärke und des Wohlstands für den Osten. Die alten Bruchbuden würden sie einreißen und die sichtbaren und unsichtbaren Gefängnistüren öffnen, damit ihre Schwestern das Tageslicht erblicken.
Das ist mein Traum. Aber offen gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob westliche Feministinnen den Mut oder die
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