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Ich bin eine Nomadin

Ich bin eine Nomadin

Titel: Ich bin eine Nomadin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ayaan Hirsi Ali
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allem die Tragödie des Erstgeborenen: die übertriebenen Erwartungen, die zerstörerische Eitelkeit, das instabile Selbstwertgefühl, das sich aus der Unterdrückung einer Gruppe – der Frauen – speist, um das Selbstbild der anderen Gruppe aufrechtzuerhalten. Statt aus Erfahrung zu lernen, statt zu arbeiten, verlegte Mahad sich auf die verschiedensten Abwehrmechanismen wie Arroganz und Selbsttäuschung. Er suchte sich einen Sündenbock – irgendwie war immer jemand anderes an seinen Problemen schuld.
    In Somalia gärte es: Der Bürgerkrieg stand kurz vor dem Ausbruch. Im November 1990 verlangte meine Mutter, die noch immer in Nairobi war, Haweya und ich sollten zurückkommen, weil sie so viel davon gehört hatte, dass Mädchen von marodierenden Milizionären vergewaltigt wurden. Mahad nahm seine Rolle als Aufpasser sehr ernst und organisierte jetzt Zusammenkünfte unserer männlichen Verwandten, bei denen er genug Geld einsammelte, um Haweya und mich auf den Landweg nach Kenia zu schicken. Er fand einen männlichen Verwandten (einen Neffen von uns), der während der Fahrt auf uns aufpassen sollte. Etwa einen Monat, nachdem wir in Nairobi angekommen waren, tauchte auch Mahad dort auf, und ihm auf dem Fuße folgte ein ganzer Flüchtlingsstrom.
    Auch unser Onkel gehörte dazu, und er bat Mahad, ihn an die Grenze zwischen Somalia und Kenia zu bringen, damit er dort nach seiner Familie suchen konnte. Als Clanmitglied war mein Bruder dazu verpflichtet. Doch Mahad zögerte und versprach immer: »Morgen.« Irgendwann konnte ich seine Hinhaltetaktik nicht länger ertragen und bot meine Hilfe an. Für Mahad war es wie ein Faustschlag in die Magengrube, dass unser Onkel mein Angebot annahm. Mir fiel wieder ein, wie mein Vater ihn ein Mädchen genannt hatte, wie er ihn aufgefordert hatte, sich doch in den Rockschößen meiner Mutter zu verstecken, wo er hingehörte. Als unser Onkel und ich draußen an der Grenze nach seiner Frau und seinen Kindern suchten, tauchte auch Mahad auf, getrieben von der Ehrenpflicht und von der Schande, die die Klatschmäuler des Osman-Mahamud-Clans auf ihn gehäuft hätten, wenn er seiner Verpflichtung nicht nachgekommen wäre.
    Ein paar Monate später erschien mein Vater in Nairobi. Haweya und ich hatten ihn zehn Jahre nicht gesehen, und ich für meinen Teil war überglücklich, dass er wieder da war, doch die Spannung zwischen ihm und Mahad war mit Händen zu greifen. Mahad prahlte immer, dass er Abeh Paroli bieten werde, doch wenn es hart auf hart kam, gab er ohne Widerworte nach. Mahad hatte es sich angewöhnt, immer bis mittags im Bett zu liegen – vor vier oder fünf Uhr nachmittags war er nie aus dem Haus gegangen, und obwohl Ma ihn jeden Tag aufs Neue anflehte, doch zu beten, hatte er es nie getan. Jetzt weckte Vater uns um fünf Uhr morgens zum Gebet, und sobald er bei Morgengrauen den Gebetsruf anstimmte, sprang Mahad wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett, rannte ins Badezimmer, vollzog die Waschungen und stand auf dem Gebetsteppich neben unserem Vater wie ein kleiner Junge. Und genau wie Abeh setzte er sich eine Stunde hin und las im Koran, bevor er ins Bett ging.
    Um diesen Ritualen zu entgehen, entwickelte Mahad zwar die Gewohnheit, in Hotels und manchmal bei seinen kenianischen Freunden zu übernachten, aber er lehnte sich nie offen gegen meinen Vater auf. Nie sagte er: »Nein, ich werde nicht beten« oder »Lass mich in Ruhe, ich will schlafen«. Das wagte er nicht.
    Einmal lief Mahad unserem Vater in der Nähe der großen Moschee im Stadtzentrum von Nairobi in die Arme. Er war mit einem Freund, einem Kenianer, unterwegs, und offenbar rauchten beide gerade. Sobald Mahad Abeh entdeckte, nahm er die brennende Zigarette in die hohle Hand, steckte sie schnell in die Hosentasche und stand ganz ruhig mit meinem Vater zusammen, während ihm die Glut ein Loch in die Hose brannte.
    Mein Vater erzählte diese Anekdote immer wieder gern, und jedes Mal nannte er Mahad einen Feigling und wollte wissen, warum er sich ihm nicht stellte wie ein Mann. Wenn ein Mann etwas tut, von dem er selbst weiß, dass er es nicht tun sollte, dann muss er stark genug sein, dazu zu stehen und sich zu verteidigen.
    Als mein Vater meine Ehe mit einem entfernten Verwandten arrangierte, der in Kanada lebte, sah Mahad, wie unglücklich ich war. Er sprach davon, zu meinem Vater zu gehen, ihm die Meinung zu sagen und ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ich glaubte ihm – ich war so verzweifelt, dass ich

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