Ich Bin Gott
Cortese trat ein paar Schritte vor und deutete auf den Arbeiter, der ein Stückchen weiter weg stand.
» Wenn Sie wollen, habe ich hier einen Mann, dem der Anblick einer Leiche nichts ausmacht. Er ist ein guter Arbeiter, und in seiner Freizeit hilft er seinem Schwager, der ein Bestattungsunternehmen hat.«
» Rufen Sie ihn her.«
Der Baustellenleiter bedeutete dem Arbeiter, näher zu kommen. Er mochte Anfang dreißig sein und hatte ein jungenhaftes Gesicht mit leicht orientalischem Einschlag. Auch die glänzenden schwarzen Haare, die unter seinem Schutzhelm hervorlugten, ließen vermuten, dass einer seiner Vorfahren aus Asien stammte.
Der Mann ging wortlos an ihnen vorbei zur Wand und bückte sich, um einen Pressluftbohrer vom Boden aufzuheben.
Vivien trat zu ihm.
» Wie heißen Sie?«
» Tom. Tom Dickson.«
» Okay, Tom. Dies ist eine delikate Angelegenheit, die wir mit ganz besonderer Vorsicht angehen müssen. Alles, was sich in diesem Hohlraum befindet, könnte von größter Wichtigkeit sein. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, wäre es mir lieber, wenn Sie Hammer und Meißel benutzen, auch wenn es länger dauert und anstrengender ist.«
» Keine Sorge. Ich weiß, was ich tue. Es wird so sein, wie Sie es brauchen.«
Vivien legte ihm eine Hand auf die Schulter.
» Ich vertraue Ihnen, Tom, machen Sie nur.«
Sie musste zugeben, dass dieser Mann wirklich wusste, was er tat. Während er den Spalt vergrößerte, bis man in den Hohlraum treten konnte, fiel der Schutt nach außen, und der Leichnam bewegte sich keinen Millimeter.
Vivien ließ sich von Salinas eine Taschenlampe geben und trat näher, um einen Blick in den Hohlraum zu werfen. Das Tageslicht war zwar noch hell, doch in der Nische selbst war es so düster, dass man nicht viel erkennen konnte. Und Gott wusste, wie viele Details man in einem solchen Fall brauchte. Vivien ließ den Lichtstrahl über die Wände und die Überreste des Mannes gleiten. Die Enge hatte verhindert, dass der Körper, der mit seiner linken Seite an der Wand lehnte, zu Boden glitt. Der Kopf war in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, was von außen den Eindruck vermittelt hatte, er liege auf der Schulter. Der luftdicht verschlossene Raum und die geringe Feuchtigkeit hatten den Leichnam teilweise mumifiziert, weswegen er besser erhalten war, als es unter normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Daher war es schwierig abzuschätzen, wie lange er schon zwischen diesen Wänden verborgen war.
Wer bist du? Wer hat dich getötet?
Vivien wusste, dass für die Familien vermisster Personen die Ungewissheit das Schlimmste war. Jemand ging irgendwann
eines Abends, eines Tages
aus dem Haus und kehrte nicht mehr zurück, ohne jeden Grund. Wenn keine Leiche gefunden wurde, quälten sich die ihm nahestehenden Menschen ihr Leben lang mit der Frage, was geschehen war, wo er sein mochte und warum er verschwunden war. Ihre Hoffnung währte so lange, bis die geduldige Zeit sie ausgelöscht hatte.
Vivien riss sich aus ihren Gedanken und setzte ihre Inspektion fort.
Als sie den Boden absuchte, entdeckte sie zu Füßen der Leiche einen mit Staub bedeckten Gegenstand, der auf den ersten Blick wie ein Portemonnaie aussah. Sie ließ sich ein Paar Latexhandschuhe geben, schlängelte sich durch die Öffnung und beugte sich hinunter, um ihn aufzuheben. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, gab sie den beiden Technikern und dem Gerichtsmediziner ein Zeichen.
» Bitte, meine Herren. Jetzt sind Sie dran.«
Während die Techniker mit der Arbeit begannen, pustete Vivien zunächst sanft den Staubschleier von dem Gegenstand und sah ihn sich genauer an. Es handelte sich eher um eine Brieftasche als um ein Portemonnaie. Sie war aus Kunstleder gefertigt, das irgendwann einmal schwarz oder braun gewesen sein musste. Vorsichtig schlug Vivien das Mäppchen auf. Die Plastiksichtfenster im Innern waren verklebt und lösten sich mit dem Geräusch zerreißenden Papiers voneinander.
Auf jeder der beiden Seiten steckte eine Fotografie.
Vivien schob vorsichtig die Finger hinter die Schutzhülle und versuchte, die Fotos herauszuziehen, ohne sie zu zerreißen. Im Licht der Taschenlampe warf sie einen Blick darauf. Auf dem ersten konnte sie einen jungen Mann mit Helm und Kampfanzug erkennen. Er lehnte an einem Panzer und blickte ernst in die Kamera. Die Vegetation im Hintergrund erinnerte an ein exotisches Land. Vivien drehte das Foto um. Dort stand etwas. Die Zeit hatte die Schrift zwar verbleichen lassen und
Weitere Kostenlose Bücher