Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
schwieg wieder.
»Lisa, bitte tu das, ja? Bitte. Versprich es mir.«
»Was ist passiert?«, fragte Lisa.
Savitri beruhigte sich etwas. »Nichts, nichts ist passiert. Mach dir keine Sorgen. Sag ihr einfach, ich hab angerufen.« Savitri fiel wieder ein, dass sie sich normal verhalten sollte, und mit verzweifelter Freundlichkeit fügte sie hinzu: »Tut mir leid, dass ich laut geworden bin, Lisa. Denk dran, uns mal an einem Wochenende zu besuchen, ja? Dann koche ich Sambar für dich.«
Als Savitri den Hörer auflegte, machte sie sich instinktiv auf das gefasst, was ihr Mann jetzt wohl gesagt hätte: »Warum bist du immer so besorgt wegen Radha? Sie ist ein gutes Mädchen.« Radha war Ravis Liebling gewesen, er hatte sich geweigert, auch nur den kleinsten Verdacht gegen sie zu hegen. Er hatte allen Ernstes geglaubt, sie würde nach dem College jemanden heiraten, der seinen Vorstellungen entsprach, einen Brahmanenjungen aus einer guten Familie. Ravi merkte nicht, dass Radha sich von dieser Einstellung schon weit entfernt hatte. Savitri dagegen hörte die Ungeduld in der Stimme des Mädchens, wann immer es auch nur ein paar Worte mit seinen Eltern wechseln sollte.
Radha war nicht immer so gewesen, so frech und abweisend. Als sie klein war, hatte ihre Mutter über sie gestaunt. Sie war forsch gewesen, manchmal unbeherrscht, aber furchtlos. Und sie war ein schlaues Kind gewesen und lieb zu ihren Eltern. Als Savitri sich zum ersten Mal um eine Stelle beworben hatte, hatte Radha ihr mit dem Anschreiben geholfen. Savitri spürte, dass es zwischen Radha und ihr eine besondere Verbindung gab, denn sie verstanden Dinge, die Ravi nie verstanden hätte.
In ihrer Mutter hatte Radha jemanden gehabt, der über ihre Witze auf Kosten ihres armen Vaters lachte, über seine peinliche Gewohnheit, nur im Lungi die Post hereinzuholen, dass er ausschließlich zu Pizza Hut oder in indische Restaurants ging oder dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, an irgendeinen Ort in den USA zu fahren, an dem keine entfernten Verwandten oder Freunde von Freunden von zu Hause wohnten, bei denen man übernachten konnte. Und Savitri sog die Meinung ihrer Tochter oft begierig in sich auf, denn das Mädchen wusste in vielen Dingen Bescheid, von denen seine Mutter keine Ahnung hatte: was man in Amerika zur Arbeit anzog, welche Bücher gut waren, welche Politiker nichts taugten und was Savitri auf die verwirrenden Witze und Ausdrücke ihrer Kollegen erwidern sollte.
Sie hätten Radha nie erlauben sollen, wegzuziehen und aufs College zu gehen, aber sie hatte einfach nicht lockergelassen und war sehr überzeugend gewesen. Vielleicht hatte Savitri ihr in all den Jahren zu sehr vertraut, ihr zu rückhaltlos das Herz ausgeschüttet und zu oft die Nase in ihre Angelegenheiten gesteckt, aber in letzter Zeit verhielt sich Radha, als fühlte sie sich schon allein durch die Anwesenheit ihrer Eltern erdrückt. Wenn man bei ihr anrief, gingen fremde Jungen ans Telefon, und ihr war jede Ausrede recht, um nicht nach Hause kommen zu müssen. Savitri hatte Ravi mit neunzehn geheiratet, ein Familienarrangement, und jetzt im selben Alter machte ihre Tochter Erfahrungen, die jenseits von Savitris Vorstellungskraft lagen. Studieren, was sie wollte, Partys feiern, mit hübschen Kerlen ausgehen. Wie sich das wohl anfühlte? Ravi hatte ihr zu leichtfertig geglaubt, dass sie einfach nur mit ihrem Studium beschäftigt sei. Savitri dagegen merkte, wie schnell sie sich von ihnen entfernte. Sie entfernte sich von ihnen, und Savitri blieb auf der Strecke.
Das elektronische Dingdong der Türklingel ertönte, und auf der Stelle füllte sich Savitris Kopf mit panischen Gedanken. Man war ihr auf die Schliche gekommen, sie wusste es. Sie ging schnell zum Wohnzimmerfenster und spähte vorsichtig durch die Gardine. Dort stand Doug Naples, ihr einziger Nachbar.
Sie schloss auf, öffnete die Tür einen Spalt breit und sah Doug mit pochendem Herzen an.
»Wissen Sie, dass Ihr Wagen noch draußen steht?«, fragte Doug. »Schon seit einer Stunde, mit laufendem Motor. Ich dachte einfach, ich komm mal vorbei und sag Ihnen Bescheid, vielleicht haben Sie es ja vergessen. Er steht halb vor der Garage.«
»Ach so, ja«, sagte Savitri. »Daran hab ich gar nicht mehr gedacht. Danke Ihnen, Doug.« Erfreut stellte sie fest, dass ihre Stimme noch recht solide klang. Aus der Angst und dem Unbehagen der letzten Augenblicke wurde wieder jene eigenartige, berechnende Selbstsicherheit. Doug hatte eindeutig
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