Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
die vom vielen Tragen schon glänzte. Ravis linker Arm war unter seinem Rumpf eingeklemmt und der rechte nach hinten gestreckt, als würde er in einem Kricket-Match zum Bowlen ausholen, die Finger grimmig um einen nicht vorhandenen Ball geschlossen.
Savitri trat zwei Schritte näher. Ein säuerlicher Geruch stieg ihr in die Nase. Ravis schwarze Augen waren offen und auf irgendeinen unbestimmten Punkt gerichtet. Aus dem Winkel seines aufgerissenen Mundes lief ein gelbes Bächlein, das auf seiner Wange zu einer pulvrigen Kruste eintrocknete. Jetzt roch sie es auch und nahm die Hand vor den Mund, um ihren Ekel zu unterdrücken. Ravis letzte Mahlzeit, dachte sie. Die Pizza, die er zum Mittag gegessen haben musste, zwei Stücke mit Oliven, Zwiebeln und roten Chiliflocken, allein und hastig hinuntergeschlungen.
Savitri sah hoch, auf etwas anderes. Sicher war es schrecklich, dass er so jung gestorben war, dachte sie, noch bevor seine Tochter ihr Studium beendet und eine Familie gegründet hatte. Aber war Savitri denn dafür verantwortlich? Sie konnte nicht alle Schuld auf sich nehmen. Im Grunde genommen war er sehr einfach gestrickt gewesen, frustrierend einfach, und ein Sturkopf. Aber war das nicht auch seine Tugend gewesen? War die Familie nicht sein Ein und Alles? Savitri sah ihn vor sich, wie er Abend für Abend um sieben Uhr an den Schreibtisch ging, Zahlen abglich und Geld verdiente, das er niemals für sich selbst ausgegeben hätte. Und nun musste alles so enden, dort auf dem Boden. Savitri blickte wieder hinab und sah, dass sie den Leichnam ihres Mannes mit einem Nieselregen aus Tränen begoss.
Ihr Mann Ravi war gestorben, nachdem er sie von der Arbeit abgeholt hatte. Zusammen mit einigen wenigen Kollegen hatte sie vor dem langen Wochenende freiwillig mit Phillip, ihrem Chef, Überstunden gemacht. Savitri hatte nichts Besonderes vor an den Feiertagen, und die Arbeit machte ihr Spaß. »Es macht Phillip überhaupt nichts aus, mich danach zu Hause abzusetzen«, hatte sie zu ihrem Mann gesagt.
»Ich mag es nicht, wenn du mit Fremden fährst«, erwiderte Ravi.
Als sie ihn daran erinnerte, dass Phillip kein Fremder war, korrigierte er sich. »Es ist nicht nötig, dass du andere Leute bittest, dich nach Hause zu fahren.« Ravi sagte das nicht zum ersten Mal, und Savitri wusste, dass er nicht grundsätzlich etwas gegen »andere Leute« hatte. Er hatte etwas gegen Leute wie Phillip mit seinem breiten Zahngrinsen und seiner amerikanischen Selbstsicherheit, der spielend leicht das Vertrauen der Menschen gewann, wie ein alter Bekannter mit ihnen scherzte und sich dabei eine gemeinsame Sprache herausnahm, in die Ravi nicht eingeweiht war. In Phillips Gegenwart fühlte sich ihr Mann sehr klein. Sie sah es daran, wie Ravi die Hände über dem Bauch zusammenlegte und zu allem nickte, was Phillip sagte.
Aber Savitri beharrte nicht darauf. Sie behandelte dieses Thema mit Fingerspitzengefühl. Sie willigte ein, dass Ravi in seinem weißen Toyota Tercel vor ihrem Büro auf sie wartete, während sie mit ihrem blauen Mundschutz und Gummihandschuhen an ihrem Platz saß und mit einer feinen Pinzette an den Leiterplatten arbeitete, die sie testete und zusammensetzte, Blau an Weiß, Weiß an Gelb, Gelb an Rot. Es war nicht so einfach, wie es klang, nein, nicht annähernd, und Savitri hatte eine ruhige Hand. Vor allem aber konnte sie mit den Phillips dieser Welt mitmischen.
»Gehen Sie nach Hause«, hatte Phillip zu ihr gesagt. Er stand in seinem weißen Laborkittel hinter ihr. »Ihr Mann wartet draußen. Morgen ist Thanksgiving. Gehen Sie nach Hause.«
»Mein Mann kann warten«, sagte Savitri, blickte hoch und lächelte hinter ihrem Mundschutz. Sie hätte sich keinen netteren Chef wünschen können, und er sah so gut aus. Fast jeden Tag lobte er Savitri für ihre Arbeit. Am liebsten hätte sie ihn einmal mit nach Hause genommen und für ihn gekocht. Wenn er doch nur Inder gewesen wäre, dann hätte sie ihm ihre Radha vorgestellt.
Als sie endlich herauskam, war Ravi aufgebracht. »Ich warte schon seit einer geschlagenen Stunde«, sagte er. »Mir tut der Hals weh, und Bauchschmerzen hab ich auch.«
»Wer hat denn auch gesagt, dass du warten sollst?«, fragte Savitri, und ihr Ärger überlappte ihre Besorgnis, sodass das eine nicht vom anderen zu trennen war. »Und dann auch noch ohne Heizung, bloß um Benzin zu sparen. Kein Wunder, dass du krank wirst.« Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Du hättest nach Hause fahren und dich
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