Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
vermisste seine Fünf-Dollar-Haarschnitte und seine fünfzehn Jahre alten Anzüge. Sie vermisste es, sonntags Seite an Seite mit ihm durch die Kaufhäuser zu schlendern, wo sie die Wahl des jeweils anderen mit mürrischen Blicken kommentierten; dass sie einander blind verstanden. Sie vermisste seine unsaubere Art zu essen, wie ihm die Sauce aus der Faust tropfte, sein zurückhaltendes, aber unverkennbar wohliges Schmatzen. Wie er sie an manchen Tagen nach dem ersten Bissen ansah und sagte: »Gutes Essen, Dee.« Warum hatte sie je mehr verlangt als das?
Es gab eine Zeit in ihrem Leben, da hatte Savitri geweint, wenn Ravi zu spät aus dem Büro zurückkam. Sie hatte am Fenster gestanden, nach den Scheinwerfern seines Wagens Ausschau gehalten und sich nichts sehnlicher gewünscht, als bei ihrer Familie und ihren Freunden in Indien zu sein, wo immer jemand zum Reden im Haus war und wo man Freunde und Bekannte zu Fuß besuchen konnte. In dieser Zeit wurde Savitri klar, dass sich etwas ändern musste, wenn sie in Amerika blieben. Sie brauchte einen Führerschein. Sie musste anfangen, sich mit anderen zu treffen, mit Amerikanern. Sie konnte nicht ewig allein zu Hause sitzen. Sie wollte sich sogar eine Arbeit suchen wie einige der Frauen, die sie im Tempel kennengelernt hatte. Aber dann hatte sie jahrelang auf so vieles verzichtet und war zu Hause geblieben bei Radha.
Jetzt hatte Savitri endlich angefangen zu arbeiten. Sie hoffte immer noch auf eine bessere Qualifikation, mehr Geld. Sie wollte etwas von der Welt sehen, reisen. Ravi konnte all dem offenbar nichts abgewinnen. Savitri wusste, dass ihr Mann insgeheim noch immer davon träumte, nach Madras zurückzugehen. Sie dagegen fand, dass Amerika so viel mehr zu bieten hatte, so vieles, was sie noch nicht einmal begriffen hatten. War sie im Unrecht, so etwas zu glauben?
Savitri merkte, dass sie jemanden um Rat fragen musste; anders war die Situation nicht zu ertragen. Aber wer könnte sich in so eine missliche Lage hineinversetzen? Poornima zum Beispiel. Poornima führte ein ähnliches Leben wie Savitri, aber, so erschien es Savitri, viel anmutiger und leichter, sie schlug sich nicht dauernd mit Problemen herum. Wenn Poornima etwas wollte, dann sorgte sie schon dafür, dass sich alles richtig fügte. Savitri bekam ein ungutes Gefühl beim Gedanken daran, sich so jemandem anzuvertrauen, einem so perfekten Menschen. Aber es war vielleicht das Beste, was sie tun konnte. Vielleicht gab es eine ganz einfache Lösung, vielleicht sagte Poornima ihr ja, dass dieses sperrige Problem gar keins war. Ja, sagte sich Savitri. Sie würde zu Poornimas Thanksgiving-Essen gehen. Und dann, wenn sie ihre Schuld und ihre Scham im Griff hatte, würde sie sich ihrer Freundin anvertrauen.
Erst am frühen Morgen schlief Savitri ein. Als sie aufwachte, verlas der Radioansager den Wetterbericht, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Es war schon nach Mittag. Sie stand auf, im Hinterkopf ein dumpfes Pochen, und duschte volle fünfundzwanzig Minuten lang. Dann zog sie einen blauen Unterrock und eine Bluse an und darüber einen goldbestickten Seidensari. Das war vielleicht ein bisschen dick aufgetragen für ein Mittagessen, das wusste sie.
Als sie aus dem Schlafzimmer ging, fiel ihr Blick ungewollt auf den toten Ravi, und obwohl sie wusste, dass er dort lag, stieß Savitri einen kurzen Schrei aus. Der Leichnam schien weicher geworden und ein Stück in den Teppich eingesunken zu sein, er hatte seine Spannung verloren. Sie eilte daran vorbei in die Garage, setzte sich in den Wagen und fuhr zu Poornimas Wohnsiedlung, eine von den neu gebauten, in der ein Wachmann in einem Häuschen ihr Kennzeichen notierte, als sie vorbeifuhr.
Poornimas Haus ragte in sattem roten Ziegel am Ende einer Sackgasse auf, und auf dem gepflegten Rasen drumherum standen junge Azaleen und Kräuselmyrten, umgeben von rotem Mulch, den die Gärtner frisch aufgeschüttet hatten. Poornimas Sohn Arun, ein großer schlanker Bursche, begrüßte Savitri an der Tür, das kurze schwarze Haar mit Gel zu einem glänzenden Schild zurückgekämmt. Er hielt ein Glas in der Hand.
»Du siehst bezaubernd aus, Tante Savitri«, sagte Arun und strich sich das Haar glatt, und Savitri musste unwillkürlich lächeln.
»Du bist sehr freundlich, Arun«, sagte Savitri. »Wie bist du denn plötzlich so groß geworden, dass du schon Wein trinken darfst?«
Arun mischte sich wieder unter die Gäste, und Savitri schlängelte sich in die Küche, wo
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