Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
die Schuld nicht ins Gesicht geschrieben stand. Sie brauchte nur so zu tun, als wäre nichts geschehen, und alles einfach aus ihrem Kopf verbannen. Niemand wusste, dass Ravi tot war, und niemand hegte den Verdacht, sie könnte ihn umgebracht haben. Wenn sie zuließ, dass sie über ihre Lage nachgrübelte, würden ihre Gedanken sie überwältigen. Am besten versuchte sie, gar nicht zu sehr über alles nachzudenken.
Sie ging ins Wohnzimmer, blieb stehen und holte einmal tief Luft, aber sie musste ganz unwillkürlich wieder zu ihrem Mann hinabschauen. Ach, sie konnte es sich einfach nicht ansehen, wie er da lag, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, die genauso naiv, unkritisch und ehrfürchtig dreinblickten wie zu Lebzeiten. Er starrte ins Wohnzimmer, als würde er die Möbel betrachten, das hässliche alte Zeug. Als wollte er sagen, das alles habe ich dir gekauft, als wir noch jung und dumm und zufrieden miteinander waren und uns dieses Zimmer genügte.
Sie hatte diesen unschuldigen Mann umgebracht, ihren Mann, der sie geliebt hatte. Sie hatte daran gedacht, und es war geschehen.
Savitri huschte an ihm vorbei ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie streifte all ihre Sachen ab und warf sie auf den Boden, dann kam ihr kurz der Gedanke, heiß zu duschen, doch stattdessen kroch sie gleich unter die Bettdecke. Sie war jetzt zu müde, müde vom Denken und vom Kochen.
Savitri dachte an das einzige tote Familienmitglied, das sie bisher gesehen hatte, ihren Großvater. Da war sie zehn oder elf gewesen. Er war sehr alt zu Hause im Dorf an einem Herzinfarkt gestorben, und sie hatten ihn im Schlafzimmer auf den Boden gelegt und gewaschen. Dann hatten sie ihn in ein weißes Baumwolltuch gehüllt und seine Stirn mit Sandelholzpaste, weißer Asche und rotem Kumkum eingerieben. Sie trugen ihn ins Wohnzimmer und bahrten ihn dort auf dem Boden auf. Seine Söhne rasierten sich nicht, der Herd blieb kalt. Die Nachbarn brachten einfache Gerichte. Ein Vadhyar kam ins Haus, um über dem Toten zu beten und ihn auf die Reise vorzubereiten. Dann kamen alle Freunde und Nachbarn ihres Großvaters sowie Kollegen und ehemalige Studenten, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, bevor er abgeholt und zur Verbrennung gebracht wurde.
Den Tod ihrer eigenen Eltern hatte Savitri nicht miterlebt. Es waren »Telefontode« gewesen; Savitri war damals schon in den USA . Und jetzt lag Ravi da mit dem Kopf auf dem Teppich, noch in seinen schmutzigen Arbeitssachen, und schlief. Selbst der Tod ist kleiner geworden, ging es ihr durch den Kopf. War das ihre Schuld?
Wo war Radha? Sie nahm das Telefon auf dem Nachttisch ab und wählte erneut die Nummer ihrer Tochter. Der Anrufbeantworter spielte irgendeine Musik, schwarze Musik, wie Savitri Rap nannte, dann waren abwechselnd die Stimmen von Lisa und Radha zu hören: »Hi, hier ist Lisa … und hier ist Radha«, und dann beide zusammen: »Nachrichten nach dem Pieps, wir melden uns. Peace.«
»Hallo, das ist eine Nachricht für Radha«, sagte Savitri. »Hier ist ihre Mutter. Hallo, Liebes. Ich bin’s. Hör zu, ich bin dir nicht böse. In Ordnung? Ich bin nicht mehr böse. Ruf mich an. Ich will bloß mit dir reden. Ich hab dich lieb. Ich muss was mit dir besprechen, was Wichtiges. Mach dir keine Sorgen, ja? Es ist etwas passiert, und ich brauche deinen Rat. Nichts …« Weiter kam sie nicht, der Apparat schnitt ihr das Wort ab. Savitri legte den Hörer auf und schloss die Augen.
Ravi hätte jetzt neben ihr im Bett liegen sollen, oder im Bad stehen und sich die Zähne putzen. Sie rief sich sein lächelndes Gesicht vor Augen. Vor etwa zwei Monaten waren sie abends zu einer Party eingeladen gewesen. Ravi hatte sich einmal komplett umziehen müssen, bevor Savitri mit ihm aus dem Haus gehen wollte. Sie hatte ihm eins seiner wenigen schicken Hemden herausgelegt und ihm gesagt, er solle sich das Haar mit Öl zurückkämmen. Und als sie mit ihm fertig war, hatte sie richtig gestaunt, wie gut er aussah. Sogar Ravi schien die Aufmerksamkeit zu genießen, die sie ihm plötzlich schenkte, trotz der damit einhergehenden Nörgelei. Und bei der Party ertappte sich Savitri dabei, dass sie kleine Dinge für ihn tat – ihm unaufgefordert Kaffee nachschenkte und vor den anderen Ehemännern Komplimente machte.
Warum hatte sie sich seinen Tod gewünscht? Die Bettwäsche roch noch nach ihm. Als sie zur Toilette ging, hätte der Sitz nass sein sollen von seiner Waschung, als Beweis für seine Gegenwart. Sie
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