Ich bin Henker: Liebesgeschichten (German Edition)
ausruhen sollen. Ich hab dir doch gesagt, ich komme schon irgendwie nach Hause.«
Ravi fuhr auf die Autobahn auf. »Keine Sorge, mir geht’s gut«, sagte er. »Jetzt sieh dir den Verkehr an. Wärst du doch mal pünktlich rausgekommen.«
Sie fuhren in Richtung Kroger, um Milch für den Kaffee am nächsten Morgen zu kaufen.
»Ich fahr später noch mal allein und hol welche«, sagte Savitri zu ihrem Mann.
»Nicht nötig«, sagte er. »Wir kommen doch sowieso daran vorbei. Das dauert zwei Minuten.«
Während Ravi mit laufendem Motor am Straßenrand wartete, ging Savitri hinein, und nachdem sie sich kurz umgesehen hatte, nahm sie die Milch aus dem Regal. Es herrschte großes Gedränge, alle wollten vor den Feiertagen noch einkaufen, und als Savitri endlich an der Kasse stand, holte der Junge, der die Einkäufe einpackte, unter dem Tresen einen ganzen Truthahn hervor und legte ihn zu der Milch in ihre Tüte.
»Was ist das?« fragte Savitri entsetzt. Sie und ihr Mann waren Brahmanen, schon ihr Leben lang strenge Vegetarier.
»Den gibt’s gratis dazu«, sagte der Junge. »Ein Geschenk für Kroger-Card-Inhaber.«
Savitri ertrug den Gedanken nicht, dass der kalte, glitschige Truthahn ihre Milch berührte, und um ein Haar hätte sie den Jungen gebeten, ihn wieder zurückzunehmen. Aber dann überlegte sie es sich anders. Sie könnte ihn verschenken, vielleicht zu Weihnachten an irgendeinen amerikanischen Kollegen. »Bitte in eine extra Tüte«, bat sie den Jungen, und dann trug sie ihre beiden Einkaufstüten vorsichtig aus dem Laden.
»Was hast du gekauft?«, fragte Ravi.
»Nur Milch«, antwortete sie.
»Und das hat so lange gedauert?«
»Ja, das hat so lange gedauert«, erwiderte Savitri. »Ich kann mich ja schließlich nicht vordrängeln. Warum musstest du mich unbedingt abholen, wenn dir nicht wohl ist? Wenn du es so eilig hast, hätte mich Phillip doch nach Hause bringen können.«
Daraufhin wurde Ravi wieder wütend. »Warum sollst du dich von anderen Leuten nach Hause fahren lassen, wenn du doch mich hast? Wozu denn, so lange ich da bin?«
Und dann schlitterte Savitri ein Gedanke durch den Kopf, wie ein Stein über Wasser: Und wenn du nicht mehr da wärst? Wäre das so schlimm? Keine Streitereien mehr auf dem Heimweg. Keine kleinlichen Forderungen, keine überzogenen Erwartungen und keine komischen Unsicherheiten mehr. Ich könnte leben, ohne dass du alles überwachst, ich könnte leben, wie ich allein es will.
Diese Gedanken, so sagte Savitri es sich jetzt immer wieder, waren aus ihrer momentanen Verärgerung heraus entstanden, aber in gewisser Weise waren es ernste Fragen. Ravi war neunundvierzig. Er ernährte sich schlecht, trieb keinen Sport und brütete oft stundenlang schlecht gelaunt vor sich hin. Was, wenn er sterben würde?
Dann musste eine Stimme gesprochen haben, eine Stimme im Wind oder im Tuckern des Motors, wie Savitri später glauben würde:
Asthu, asthu. So werde es.
Als sie eine Viertelstunde später in ihre Wohnsiedlung einbogen, sagte Ravi so seltsam ihren Namen, als wäre er eine dringende Frage, auf die sie ihm eine Antwort schuldete, oder ein ungläubiger Vorwurf: »Savitri?« Sie sah ihn nicht an, sondern blickte nur weiter stur zum Beifahrerfenster hinaus und wartete, ob er noch etwas folgen ließ. Da er es nicht tat, reagierte sie einfach nicht.
Sie bogen in ihre Hofeinfahrt ein. Quälend langsam und quietschend öffnete sich das elektrische Garagentor. Dann, halb in der Garage und noch halb davor, blieb der Wagen ruckartig stehen. Als Savitri ihren Mann ansah, zog er eine übertriebene Grimasse. »Ravi«, rief sie, doch statt einer Antwort kam nur ein angestrengtes, rasselndes Pfeifen. Savitri sagte zu ihrem Mann, er solle aufhören damit, den Wagen parken und seine Albereien lassen. Als er immer noch nicht antwortete, brachte sie den Hebel selbst in Parkposition. Ravi war kreidebleich. Unter größter Anstrengung nahm er die Hände vom Lenkrad und stieg wackelig aus dem Wagen, wobei er sich so schwer auf Savitri stützte, dass sich später sicherlich ein blauer Fleck an ihrer Schulter bilden würde. Savitri half ihm bis ins Wohnzimmer, doch dort verstummte sein Keuchen und Röcheln; sie konnte ihn nicht mehr halten und er sackte zu Boden. Krämpfe durchzuckten seinen Körper, er lief blau an und dann regte er sich nicht mehr.
Vor langer Zeit, als Savitri noch klein war, hatte sie einmal im Beisein ihrer Eltern zu ihrem kleinen Bruder gesagt, sie wünschte, Gott würde ihm
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