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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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sie am Abend der Krawalle mit den Studenten geflüchtet war. An der Brüstung klebte ein ausgefranster Zettel:
    Muse rebelle, rendez-vous à la première pluie
    (Rebellenmuse, Rendez-vous beim ersten Regen)
    Mila war klar, dass der Zettel für sie bestimmt war, die Rebellenmuse mit dem Br â ncu ş ikopf.
    Hatte es seit jenem Abend geregnet? Sie konnte sich nicht erinnern.
    Morgen um 15 Uhr vor der Sorbonne. Zieh flache Schuhe an …
    Sie lief in Richtung Sorbonne.
    Als sie die Rue Champollion überquerte, spürte sie die ersten Regentropfen. Der Herr ist mit mir! Sie machte kehrt und stieg mit klappernden Absätzen die Treppenflucht zur Terrasse hoch. Leer. Trotz Sonne ging ein Platzregen nieder und erinnerte sie daran, dass Frühling war; seit der Zettel an die Brüstung geklebt worden war, musste es schon öfters geregnet haben – der Junge war gekommen, hatte gewartet und war wieder gegangen.
    Ein Wasserspeierkopf mit feucht glänzenden Augen spuckte in den Himmel. Mila blickte zu ihm hoch, dann zog sie den Schal des jungen Mannes aus der Handtasche, kletterte auf die Brüstung und schlang den Schal um den Hals des Wasserspeiers. Fünf Stockwerke hoch über der Straße balancierte sie am äußersten Rand der Terrasse. Sie streichelte die lang gezogene Schnute des Wasserspeiers, schaute ihm in den Schlund und küsste seine windzerfressenen Lippen. »Doch David war vollkommen schön«, sagte sie. Sie sah den segelnden Schwalben zu und ahmte, die Knie beugend und streckend, deren Gleiten nach.
    Josef kam in der Klinik an, in der er einen Termin ausgemacht hatte. Als er in die winzige gekachelte Kabine trat, weinten die Thoraverse auf seiner Schulter. Er stellte den Samtbeutel, in dem er Gebetsschal und Gebetsriemen aufbewahrte, vor der Kabinentür ab, damit die heiligen Kultgegenstände nicht Zeugen seiner Beschmutzung wurden, machte das Licht aus und würdigte die Zeitschriften mit nackten Frauen keines Blickes.
    Regen prasselte ans Fenster.
    Als ob ich mit ihr zusammen wäre, barmherziger Herr … Ist dies nicht die Zeit, in der sie erlaubt ist?
    Seine Hände näherten sich seinem Ammah. Wenn Gott ihn tötete, wie er einst Onan getötet hatte, wollte er den Tod freudig begrüßen, denn er würde Mila aus ihrer unfruchtbaren Ehe befreien.
    Er versuchte es mit trockenen Händen. Meine rechtmäßige Ehefrau, Mila MilaHeller, barmherziger Herr, ein Kind, ein Heim, ein jüdisches Heim, Mila Mila Heller …
    Regen lief über die Augen des Wasserspeiers. Schwanger, schwanger, sang jeder vom schmalen Sims abspritzende Tropfen … Da sie nun Juda sah, meinte er, sie wäre eine Hure … Da kam er zu ihr … und sie ward von ihm schwanger.
    Würde Mila Heller keinen neuen Namen für ihre Verstorbenen machen?
    Sie hielt sich jetzt richtig fest, ging in die Knie, setzte sich rittlings auf die Brüstung und ließ sich zurück auf die Terrasse gleiten.
    Die Auguste-Comte-Statue vor der Sorbonne trug eine rote Krawatte. Menschenmassen strömten durch das große Portal ein und aus. Die Statuen von Zola und Pasteur im Innenhof der Universität schwenkten rote Fahnen. Neben improvisierten Ständen, die von Manifesten, Gedichten und Ankündigungen überquollen, standen die Studenten in Gruppen beisammen und diskutierten: Marx … Trotzki … Mao … Entfremdung …
    Wie sollte sie in dieser Menschenmenge den Jungen finden, der sich Xavier nannte?
    Auf einem großen Plakat stand:
    Il est interdit d’interdire
    (Es ist verboten zu verbieten)
    Mila hörte einzelne Töne, dann einen tiefen Akkord. Mitten im Hof, aus dem die Pflastersteine herausgerissen worden waren, stand ein Stutzflügel, vor dem eine Studentengruppe erhitzt debattierte. Dahinter, am Klavier … sie kämpfte sich zu ihm vor, doch er hielt den Blick auf die Tasten gerichtet. Sein Gesicht war von langen Locken verdeckt, die auf einen roten Schal fielen.
    Sie lehnte sich mit dem Rücken in die Wölbung des Flügels. Die Hämmer schlugen auf die Seiten. Die Töne hallten in ihr nach. Sie glitt auf den Boden und kroch unter den Flügel. Weil sie zu groß war, um bequem zu sitzen, legte sie sich hin. Um sie herum der Duft von Erde und Regen. Sie schloss die Augen.
    Die Töne kletterten an Milas Waden hoch, krochen die Schienbeine entlang, schlängelten sich um die Knie herum, bis sie auf ihrem Bauch liegen blieben. Sie öffnete die Augen. Über ihr erstreckte sich die Unterseite des Flügels wie ein schwarzer, von Melodien vibrierender Himmel.
    Sie legte den Kopf auf den

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