Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Therapeuten predigen das vollkommen unrealistische Ideal eines Lebens in permanenter ausgeglichener Zustimmung zu sich selbst. Die Menschen werden angehalten, alles und jedes in Bezug zu ihrem Selbstwert zu setzen. Eine Gehaltserhöhung, ein Misserfolg, Liebespech, Ablehnung, ja auch das neue Auto – alles muss im Hinblick auf die Selbstachtung beobachtet, bewertet, eingeordnet werden: Was macht das mit mir, was sagt das über mich? Und wer dabei nicht dauernd zufrieden strahlt, hat ein Selbstwertproblem und wird ermuntert, sich zu fragen, ob etwas grundlegend mit seinem Leben falsch läuft.«
Als ob jedes negative Gefühl eine Krankheit wäre, die behandelt werden muss. Als ob jede Abweichung vom angeblichen Normalzustand Glück ein Beweis dafür wäre, dass wir irgendetwas falsch gemacht haben.
Die meisten Menschen missachten die Tatsache, dass das Leben nicht nur Glück bedeutet, Zufriedenheit ist ein nicht immer herstellbarer Zustand, es gibt
1000 Gründe, unzufrieden zu sein.
Moshé Feldenkrais
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Mit vorauseilendem Gehorsam übernehmen wir Verantwortung für Dinge, die wir nicht wirklich beeinflussen können, und versuchen, unseren Charakter, unsere Gefühle, unsere Beziehungen und sogar die zufälligen Ereignisse, die unseren Lebensweg bestimmen, zu kontrollieren, und verteidigen es als Privileg, uns den Bedingungen des Arbeitsmarktes und unseres sozialen Netzwerks anpassen zu dürfen.
Selbstverständlich sind wir mit Spaß an der Sache dabei, denn wir betrachten das Leben als Herausforderung und nicht als Last, wir sehen überall Chancen, keine Hindernisse. Wir lernen aus unseren Fehlern. Und wenn wir auf die Nase fliegen, nehmen wir’s sportlich und stehen wieder auf.
Wer die Schuld bei sich sucht,
rebelliert nicht gegen das System.
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Aber nicht alle von uns können Gewinner sein. Es ist in unserer industrialisierten Gesellschaft nicht jedem vergönnt, sein Selbstbewusstsein auf seiner sozioökonomischen Rolle aufzubauen. Tatsächlich könnte die Wirtschaft durch die zunehmende Automatisierung mit einer kleinen Elite funktionieren. Etwa dreißig Prozent der gesamten Arbeitskraft eines Industrielandes würden ausreichen, um die Ökonomie aufrechtzuerhalten, meint jedenfalls der amerikanische Soziologe Richard Sennett in seinem Buch Die Kultur des neuen Kapitalismus (2005). Bei den übrigen siebzig Prozent stelle sich daher ein Bewusstsein über ihre Nutzlosigkeit ein.
Wie tatkräftig und optimistisch wir uns auch geben, heimlich fürchten wir, dass wir zu den siebzig Prozent gehören, die keiner braucht; so wie der Protestant fürchtet, dass er zu den Verdammten gehört. Wir bekämpfen das »Gespenst der Nutzlosigkeit« mit aller Kraft. Wir lassen uns coachen und therapieren, um Qualifikationen wie Konfliktfähigkeit, Kreativität oder Kommunikationsfähigkeit zu erwerben, denn die braucht man jetzt neuerdings für eine ganz normale Anstellung. Wir schicken unsere Kinder auf zweisprachige Schulen, um sie zu rüsten für den Kampf um den zukünftigen Arbeitsplatz. Wer mehr leisten könnte und es nicht tut, hat ein schlechtes Gewissen. Und wer den Schwindel nicht mehr aufrechterhalten kann, bricht zusammen.
Depression wird zur Volkskrankheit, inzwischen werden fast ein Drittel der Krankschreibungen wegen psychischer Probleme ausgestellt. Die WHO prognostiziert, dass im Jahr 2020 Depressionen neben Herz-Kreislauf-Beschwerden zu den weltweit häufigsten Erkrankungen gehören. Selbstmord und Depression kosten in Japan Milliarden, allein 2010 haben sich über 30 000 Japaner umgebracht.
Dass die Anzahl der Selbstmorde unter Menschen, mit denen es das Schicksal doch ganz gut gemeint hat, bereits in den Sechzigerjahren zunahm, erklärte sich der Psychologe Erich Fromm so: »Wer sein Leben vorwiegend als eine Art Unternehmen betrachtet, in das man seine physischen und psychischen Fähigkeiten möglichst sinnvoll investieren müsse, für den schlägt Leben fehl, wenn die Bilanz unterhalb des erhofften Werts liegt. Man begeht Selbstmord, genau wie ein Geschäftsmann seinen Bankrott erklärt, wenn die Verluste größer sind als der Gewinn.«
Depression ist heute kein Tabuthema mehr. Manche bezeichnen es als Fortschritt, dass in den Medien offen über diese psychische Erkrankung gesprochen wird. Aber vielleicht ist es gar nicht so, dass die Menschen immer depressiver werden, sondern dass Ärzte öfter Depressionen diagnostizieren, weil es inzwischen gesellschaftlich mehr anerkannt ist zu sagen, man leide an
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