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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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um
Erfahrungen zu sammeln? Ja
    Sagen Sie oft Sätze wie: »Ich weiß, das ist eine
echte Schwäche von mir«? Ja
    Meinen Sie, man muss sich mit sich selbst auseinandersetzen, um zufrieden zu sein? Zum Beispiel in einer Therapie
oder in einem esoterischen Seminar? Ja

3
WER BESSER WERDEN WILL,
WIRD WAHNSINNIG
DIE DREI FALLEN DER SELBSTOPTIMIERUNG
    Wer keine üblen Gewohnheiten hat,
hat wahrscheinlich auch keine Persönlichkeit.
    William Faulkner

Dies ist seine letzte Zigarette, die allerletzte. Doch die letzte Zigarette ist schnell geraucht. Schon kommen ihm Zweifel, ob er sein Vorhaben richtig angepackt hat. Es wäre absurd, ja willkürlich, einfach so mitten am Tag mit dem Rauchen aufzuhören. Es ist elf Uhr vormittags, von seinem Fenster im zweiten Stock kann er den Kiosk sehen, er schaut zu, wie einige der vorübereilenden Passanten stehen bleiben und, nach einem kurzen Wortwechsel mit dem von hier oben unsichtbaren Händler, aus der Öffnung des Verkaufsstands Zeitungen, Kaugummis oder Zigaretten entgegennehmen. Zigaretten.
    Heute würde der letzte Tag sein, an dem er raucht, am Abend würde er aufhören, beschließt er. Dann würde er den nächsten Morgen unschuldig und frisch wie ein Nichtraucher beginnen.
    Mein Vater geht nach unten auf die Straße, er kauft eine Schachtel Zigaretten. Kaum hat er die Packung in der Hand, reißt er den Papierstreifen entlang der perforierten Linie auf, der kleine Pappdeckel lässt sich mit einem Schnipsen seines linken Zeigefingers öffnen, schon liegen sie vor ihm in Reih und Glied, die duftenden Tabakstangen, vielversprechend und bescheiden zugleich. Wie wird er diesen Anblick vermissen, denkt er, als er die erste Zigarette aus der jungfräulichen Schachtel polkt. Doch kaum hat er sie geraucht, sorgt er sich schon. Würde die eine Schachtel für diesen Tag reichen. Denn er will seinen letzten Tag als Raucher auskosten, und das bedeutet, er braucht nicht nur die Zigaretten zum Kaffee und die für eine Gedankenpause zwischen zwei Absätzen des Buches, welches er am Nachmittag zu lesen gedenkt, er braucht auch Zigaretten fürs Abendessen mit einem Freund in seinem Lieblingsrestaurant in der Amalienstraße. Nicht zu vergessen die Zigaretten nach dem Essen, zum Rotwein. Wie wunderbar ist es, wenn sich die Wirkung des Alkohols mit der des Tabaks vermischt, wenn der Geist durch den Wein beruhigt wird, sodass ein sanfterer und versöhnlicherer Blick auf die Dinge des Lebens möglich ist, aber gleichzeitig durch eine oder mehrere Zigaretten so angeregt, dass man die milden Gedanken in schöne, klare Worte zu fassen vermag.
    Weitere Zigaretten will er für die Phase des Abends reservieren, in der er und sein Freund nicht mehr sprechen müssen, um einander zu verstehen. Was gibt es Schöneres, als neben einem guten Freund zu sitzen und dem Rauch der gemeinsam genossenen Zigaretten nachzublicken, der in der kühlen Nachtluft viel höher aufsteigt als am Tag.
    Dann die letzte Zigarette, wenn der Kellner bereits die Stühle hochstellt und anfängt, die Straße zu kehren. Und die allerletzte, kurz bevor man aufsteht und sich in wortloser Freundschaft verabschiedet, um anschließend zufrieden nach Hause zu schlendern.
    Um sicher zu sein, diese wertvolle letzte Zigarette am späten Abend auch bei sich zu haben, geht mein Vater erneut zum Kiosk hinunter und kauft zwei weitere Schachteln: Heute soll er nicht darben müssen.
    Am Nachmittag sind die drei Schachteln aufgeraucht, für das Abendessen im Restaurant mit seinem Freund muss er eine vierte besorgen. Eine fünfte Schachtel kauft er dem Kellner ab, für den Heimweg, denn er hatte vergessen: Gerade in der Stille und Einsamkeit ist ihm die Zigarette wertvoll, wertvoller sogar als in Gesellschaft. Der bittere Geschmack des Tabaks und das leichte Ziehen in der Lunge unterstreichen die nach jeder innigen Begegnung einsetzende Melancholie, wie es kein anderes Genussmittel vermag.
    Im Bett raucht er seine allerletzte Zigarette. Ein geliebtes Ritual, welches ihm sehr fehlen wird, wenn er ab dem nächsten Morgen nicht mehr raucht.
    In der Nacht muss sich mein Vater übergeben. Am nächsten Tag kommt der Arzt und stellt eine akute Nikotinvergiftung fest.
    Das Unglück meines Vaters ist nur, dass in der fünften Schachtel vier Zigaretten übrig geblieben sind. Es ist lächerlich, diese vier Zigaretten wegzuwerfen, denkt er, als er im Bademantel in der Küche steht und gerade im Begriff ist, die übrig gebliebene Schachtel im Mülleimer zu entsorgen.

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