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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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den Sinn käme, und den Menschen, denen sie begegne, ganz unverblümt ihre Meinung zu sagen. Das hörte sich großartig an, bestätigte ich und erfuhr dann sogleich, was meiner Vermieterin an diesem Morgen in den Sinn gekommen war.
    Sie hatte sich an der großen Kreuzung mit dem Matratzengeschäft und dem Kaufhaus hinter den großen Blumenkübeln aus Beton versteckt, welche den Bürgersteig und den Fahrradweg voneinander trennten. Jedes Mal, wenn nun ein Fahrradfahrer den Radweg in der falschen Richtung entlangkam, war sie hinter den Kübeln hervorgesprungen, hatte sich dem Radfahrer in den Weg gestellt und ihn zum Anhalten gezwungen. Während sie den Fahrradlenker festhielt, damit der Radfahrer nicht fliehen konnte, hatte sie ihm aus der Verkehrsordnung die Stelle zitiert, die sich mit seinem speziellen Vergehen befasste.
    Das war ihr schon lange ein Bedürfnis gewesen, sagte meine Vermieterin, dank ihrer Therapeutin habe sie den Mut gefunden, dieses Vorhaben auch in die Tat umzusetzen, und es habe ihr richtig gutgetan.
    Mich wunderte, dass meine Vermieterin an dem Tag, an dem sie sich endlich getraut hatte, sich so zu zeigen, wie sie ist, nicht spontan von ihren Opfern eine gescheuert bekommen hat. Man kann nur froh sein, dass sich offensichtlich mehr Menschen im Griff haben, als man allgemein annimmt.
    Diese Geschichte ist nicht ausgedacht, und ich hoffe, dass meine ehemalige Vermieterin dieses Buch niemals in die Finger bekommt, denn sie war nicht nur zwanghaft, sondern auch nachtragend und rachsüchtig, wie ich in den wenigen Wochen, die ich bei ihr wohnte, erleben musste. Aber sie ist ein schöner Beleg dafür, dass Menschen, die beschließen, ihre Schwächen in Angriff zu nehmen, die Angelegenheit stets verschlimmern.
    Es liegt in der Natur der Sache, dass meine ehemalige Vermieterin etwas anderes unter »aus sich herauskommen«, »wahrhaftig sein« und »seine Meinung offen sagen« versteht als ihre Therapeutin. Wenn sie es nicht täte, hätte sie ja keine Probleme damit. Denn nichts, was man ihr oder mir oder Ihnen zur Bekämpfung eines persönlichen Ticks vorschlagen würde, könnte helfen, denn die Maßnahmen werden in jedem dieser Fälle durch denjenigen wahrgenommen, der eben genau diesen Tick oder jene Charaktereigenschaft ausgebildet hat. Wer zwanghaft ist, wird auch seine Zwanghaftigkeit zwanghaft bekämpfen, sobald er beschlossen hat, darin ein Problem zu sehen. Ein Gehemmter, der sich bemüht, mehr aus sich herauszugehen, wird Dinge tun, die ihm nicht entsprechen – und sich erst recht unwohl fühlen. Alles, was wir hören und sehen, wird so gedeutet, wie es unserer Gesamtpersönlichkeit entspricht. Es gibt keinen Ausweg aus uns selbst.
Wenn ich dumm bin und sage, ich muss
intelligent werden, ist diese Bemühung
um Intelligenz nur eine größere Form
von Dummheit.
Jiddu Krishnamurti
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    Das lässt sich am deutlichsten bei anderen erkennen. Da nicht wenige Menschen einen Großteil ihrer Zeit und Kraft darin investieren, ihre unliebsamen Eigenschaften zu bekämpfen, kann man in seiner Umgebung Folgendes beobachten: Das Bemühen, seine schlechten Eigenschaften zu überwinden, führt dazu, dass Menschen erst recht immer wieder über sie stolpern. Der Kampf gegen die eigene Schwäche liefert einen Beweis nach dem anderen dafür, dass man sie hat. Warum sich die Leute diese Erfahrung nicht ersparen, ist eines der großen Rätsel des Alltagslebens.
    Meist lassen sich schon von dem Ort, an dem sich bestimmte Leute bevorzugt aufhalten, Rückschlüsse auf ihre größten Schwächen und Fehler ziehen. Die angeführten Beispiele wirken klischeehaft. Ein Klischee ist ein Klischee, weil damit Personen und Tatsachen beschrieben werden, die so typisch und allgegenwärtig sind, dass man diese Beschreibung nicht mehr als originelle Beobachtung verkaufen kann. Diese Beobachtung hat jeder gemacht, der sich irgendwann einmal auf eine Veranstaltung oder zu einer Institution begeben hat, in der Hoffnung, dort Gleichgesinnte zu treffen, nur, um dann zu der Überzeugung zu gelangen, dass er sie dort, wo er sie vermutete, auf keinen Fall trifft.
    – In Kreativseminaren sitzen stets die besonders Unkreativen, die für jeden Pinselstrich und jeden Tanzschritt eine Anweisung brauchen und über jede ihrer künstlerischen Äußerungen wissen wollen, ob sie »gut« oder »schlecht« sei. Sie gieren nach Maßstäben, statt welche zu setzen (was aber jeder ernstzunehmende Künstler tut).
    – Auf Partys, bei denen Sex, Drugs und

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