Ich bleib so scheiße, wie ich bin
Hausaufgabenkontrolle und die abendliche Überwachung unserer Körperpflege schienen uns übertrieben. Vielleicht ließ sich sogar die Gunst der Stunde nutzen, und man konnte ein paar lang gehegte Wünsche einfordern, wie einen Hund oder mehr Fernsehen.
Unsere Mutter nahm die Hand meines Vaters: »Euer Vater und ich wollen uns bei euch entschuldigen, dass wir so wenig Zeit für euch haben. Und wir haben uns vorgenommen, dass wir in Zukunft mehr mit euch spielen.«
Entgeistert schauten meine Schwester und ich uns an. Wir hatten vieles erwartet, aber darauf wären wir nicht gekommen. Meine Schwester protestierte als Erste: »Wir wollen nicht mit euch spielen! Spinnt Ihr?«
Staatlich verordnetes schlechtes Gewissen:
Immer wieder mahnt das Bundesministerium
für Familie in Hochglanzbroschüren und auf
flächendeckenden Anzeigen: Spielt mehr mit
Euren Kindern.
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WAS WOLLEN SIE AN SICH ÄNDERN?
Schreiben Sie alles auf ein weißes Blatt Papier, was Sie an sich, also an Ihrem Körper und Ihrem Charakter verbessern wollen, beziehungsweise, was Sie an Ihrem Leben verändern möchten.
Dann knüllen Sie den Zettel zusammen und werfen ihn weg.
5
SCHLUSS MIT DER ARBEIT
AN SICH SELBST!
WAS MAN NICHT ERREICHEN WILL,
KANN AUCH NICHT UNGLÜCKLICH MACHEN
»I’m born this way!«
Lady Gaga
Eines Morgens klebte an der Wohnungstür unserer Wohngemeinschaft ein Zettel, auf dem stand, dass wir binnen zwei Wochen auszuziehen hätten. Es war zu meinen Studienzeiten, unser Hausbesitzer war pleite gegangen und nach Ibiza abgehauen. Wir waren fünf Mädchen Anfang zwanzig, und alle suchten ein neues und vor allen Dingen günstiges Zimmer. Da es gerade mitten im Semester war, nahm ich das erstbeste Angebot an. Ein paar Straßen weiter vermietete eine Frau Mitte vierzig ein Zimmer in ihrer 130 Quadratmeter großen Wohnung. Sie schien vertrauenswürdig, Bad und Küche waren sauber, und – das war das Wichtigste – sie ging jeden Tag zur Arbeit, würde also tagsüber nicht da sein.
Es dauerte nicht lang, bis ich feststellte, dass meine neue Vermieterin zwanghaft war. Sie putzte nach einem strengen Zeitplan, zählte die Nahrungsmittel im Kühlschrank, die Blätter auf den Klopapierrollen, wusste, wie oft ich telefonierte, ein Bad nahm oder die Spülung zog. Die wenigen Telefonanrufe, die sie erhielt, schnitt sie mit und archivierte sie. Sie klaubte vertrocknete Gurkenschalen und leere Joghurtbecher aus dem Müll und legte sie mir vor die Zimmertür, weil ich sie in die falschen Abfallbehälter geworfen hatte. Das passierte oft, denn sie hatte über ein Dutzend Müllbehälter in ihrer Küche aufgestellt, und es fiel mir schwer, sie alle auseinanderzuhalten, allein für leere Flaschen gab es fünf: einen für dunkle Flaschen, einen anderen für Weißglas, einen dritten Drahtkorb für die Flaschen, die im Bioladen abgegeben wurden, und einen vierten für Gläser, die man wiederverwenden konnte. In den fünften kamen schließlich die normalen Pfandflaschen. Sie duldete kein benutztes Geschirr neben der Spüle, keine Wäsche auf dem Wäscheständer (außer montags), keinen Schuh oder Mantel von Besuchern in ihrem Flur. Kurzum: Sie kontrollierte alles.
Nach einer Weile erfuhr ich auch, warum mein Zimmer frei geworden war. Meine Vermieterin hatte bis vor Kurzem mit ihrer Freundin zusammengelebt, einer hübschen und fröhlichen Frau, so jedenfalls mein Eindruck, nachdem sie mir einige Fotos gezeigt hatte. Sie hatte sie verlassen, weil sie ihre Zwanghaftigkeit nicht mehr ertragen konnte. Der Auszug ihrer Freundin habe sie so aufgewühlt, dass sie nur wenige Tage später eine Therapie begonnen habe, gestand sie mir bei einem gemeinsamen Abendbrot.
Am darauffolgenden Samstagmorgen stand ich auf und ging in die Küche. Meine Vermieterin war schon aus dem Haus. Auch am Nachmittag, als ich mit Einkäufen in die Wohnung zurückkam, war sie nicht da. Das war ungewöhnlich, denn sie hatte so gut wie keine Freunde, mit denen sie sich am Wochenende treffen konnte. Erst am frühen Abend kam sie zurück, durchgefroren, aber aufgeräumt und fröhlich. Während sie ihre Brotbox und die leere Thermoskanne auswusch, erzählte sie mir den Grund ihrer guten Laune: Sie hatte heute genau das gemacht, was sie wollte. Ihre Therapeutin hatte ihr erklärt, dass ihre Zwanghaftigkeit daher rühre, dass sie nie wirklich aus sich herauskäme und selten das tue und sage, wonach ihr sei. Ihre Aufgabe für dieses Wochenende sei also gewesen, das zu tun, was ihr spontan in
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