Ich darf Sie nicht lieben, Miss Jessica
ihre Wangen verloren an Farbe. Als ihr Begleiter ihre Blässe bemerkte, brachte er die Kutsche zum Halten.
„Meine liebe Miss Beresford!“, rief er aus und musterte sie besorgt. „Sie sehen aus, als fühlten Sie sich ein wenig unpässlich. Ich hoffe inständig, dass es nicht meine Fahrweise ist, die Ihnen solches Unbehagen verursacht?“
Jessica zwang sich zu lächeln. „Aber nein, Mr. Pevensey, Sie kutschieren bemerkenswert gut. Ich habe nur leichte Kopfschmerzen. Es war dumm von mir, keinen Schirm mitzunehmen, denn die Sonne sticht ein wenig, finden Sie nicht auch?“
Pevensey war bereits dabei, das Gefährt zu wenden. Er nickte ihr stirnrunzelnd zu. „Dennoch, meine Liebe. Wir können unmöglich weiterfahren, wenn Sie sich elend fühlen. Ich werde Sie unverzüglich nach Hause bringen.“
Jessica unterdrückte das Lächeln, das sich in ihre Miene zu stehlen drohte. Sie konnte es nicht ändern, aber ihrer Einschätzung nach war Mr. Pevenseys überhastete Rückkehr in die Dover Street mehr auf seine Angst zurückzuführen, mit einer kränklichen Begleiterin gesehen zu werden, als auf tatsächliche Sorge um ihr Wohlergehen.
Das ist das Dumme an Felicitys Freunden, dachte sie, während sie Mr. Pevensey dabei beobachtete, wie er sich mit der Karriole geschickt in die Kolonne der Kutschen auf der Rotten Row einfädelte. Obwohl ihre Bekanntschaft mit diesen Leuten noch nicht lange währte, hatte sie schnell herausgefunden, dass ihnen allen Äußerlichkeiten weit mehr bedeuteten als charakterliche Werte – was, wie sie sich trocken eingestand, vermutlich der Grund dafür war, dass man sie in dem illustren Kreis überhaupt akzeptiert hatte.
Besonders die Gentlemen in Felicitys Zirkel schienen der Meinung, dass es ihr Ansehen erhöhte, mit der erklärten „Schönheit der Saison“ gesehen zu werden, und so hatte Jessica in den vergangenen Tagen eine Verabredung nach der anderen gehabt – morgendliche Ausritte im Park, Theaterbesuche, Bootspartien auf der Serpentine, Besichtigungen von Kunstausstellungen und so viele Kutschfahrten, dass sie sich kaum noch an alle erinnern konnte. Hinzu kamen die täglich eintreffenden Berge extravaganter Treibhausblumensträuße, für die Matts Haushälterin inzwischen kaum mehr genügend Vasen aufzutreiben vermochte.
Nicht dass sie die Nase gerümpft hätte über all diese Aufmerksamkeiten, die Felicity und ihre Freunde für unerlässlich erachteten, um jenen tadellos schicklichen Eindruck zu machen, der ihnen so wichtig war – weit wichtiger jedenfalls, als sich zu amüsieren. Tadellos schicklich, dachte Jessica aufrührerisch. Und grässlich langweilig .
„Du warst nicht lange weg“, stellte Matt fest, als sie kurz darauf den Salon betrat, wo er es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte und seine Zeitung las. „Es ist doch nichts passiert, hoffe ich?“
„Ich habe Kopfschmerzen bekommen, das ist alles.“ Jessica löste die Schleife der Hutbänder unter ihrem Kinn und warf die Schute auf die Chaiselongue. „Die Sonne scheint ziemlich grell heute. Wo ist Imogen?“
„Oben. Sie ruht“, erwiderte ihr Bruder. „Und ich würde dich bitten, sie nicht zu stören, wenn es dir nichts ausmacht.“
„Aber nein, Matt. Natürlich nicht.“
Jessica setzte sich auf die Chaiselongue, die dem Sessel ihres Bruders gegenüberstand, strich sich über das Haar und betrachtete dann eingehend ihre Fingernägel. „Ist dir in der letzten Zeit zufällig Lord Wyvern über den Weg gelaufen?“, fragte sie leichthin.
Matt hob die Augenbrauen und sah sie an. „Wieso hast du plötzlich ein solches Interesse an dem Mann?“, wollte er wissen.
„Aus keinem besonderen Grund“, beteuerte sie und versuchte ungezwungen zu klingen. „Ich dachte nur, du hättest gesagt, er wolle uns seine Aufwartung machen.“
„Das ist Wochen her, Jessica.“
„Stimmt.“ Jessica nickte. „Aber ich hatte noch keine Möglichkeit, ihm für seine Hilfe zu danken.“
Matt zuckte die Achseln. „Ich nehme an, er hat die Sache längst vergessen. Er scheint Wichtigeres im Kopf zu haben, hörte ich.“
Wie den gestohlenen Brief seines Bruders. Hatte es sich inzwischen herausgestellt, ob sich die Anspielung tatsächlich auf eine Mine bezog? „Er lässt sich nur selten auf gesellschaftlichen Anlässen blicken.“
Matt legte seine Zeitung beiseite. „Zufällig habe ich letzte Woche auf der Soiree von Lady Henderson eine Partie Cribbage mit ihm gespielt – während du damit beschäftigt warst, mit einem
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