Ich durchschau dich!: Menschen lesen - Die besten Tricks des Ex-Agenten (German Edition)
»Wenn ich daran denke, dass ich morgen wieder zu dieser alten Schachtel muss.«
»Sie ist doch ganz nett!«, widersprach ich, um mehr zu erfahren.
»Nett? Hä? Hock du dich mal zu der in die Bude den ganzen Tag!« Er verstellte die Stimme: »Wollen Sie ein Tässchen Kaffee? Soll ich Ihnen eine Butterbreze machen? Haben Sie eine Allgemeinbildung? Das Fenster muss aber geschlossen bleiben …«
»Die meint es doch nur gut«, sagte ich locker.
»Und wie es da müffelt. Nach Krankenhaus und Friedhof.«
Ja, nach Friedhof. Innerlich beerdigte ich die Tätigkeit dieses Kollegen. Nicht nur in diesem Fall. Ich würde ihn so bald nicht mehr einsetzen. Er verstieß gegen mehrere der wichtigsten Regeln für Agenten gleichzeitig. Robert drehte sich kurz um. Erneut wechselten wir Blicke.
»Und weißt du, was die jeden Abend isst? Presssack! Blutigen, kalten, ekeligen, fettigen Pressack!«
»Ja, und?« Meine Stimme klang nicht so neutral, wie ich es gern gehabt hätte. Er merkte das und fühlte sich bemüßigt zu erklären:
»Das ist dermaßen widerlich. Wie das schwabbelt. Und dann nimmt sie ein Stück zwischen ihre gichtigen Finger und fragt mich …«
Wir waren im Erdgeschoss angelangt. Für Andreas würde es noch ein Stockwerk tiefer gehen. Ich verabschiedete mich von ihm und Robert und war so sicher, dass Robert ihn von dem Fall abziehen würde, dass ich Frau Mühlthaler drei Minuten später anrief.
»Morgen kommt ein neuer Kollege. Einer, an dem Sie mehr Freude haben.«
»Ach?«
»Mit Herrn Brauer lagen Sie ja nicht ganz auf einer Wellenlänge.«
»Das haben Sie gemerkt?«
»Sie haben es mir nicht allzu schwer gemacht. Er ist jung und muss noch einiges lernen. Aber bitte, wenn wieder so was ist, dann rufen Sie mich an. Ich bin dafür zuständig, dass Sie sich gut fühlen unter den schwierigen Bedingungen. Ich weiß Ihr Entgegenkommen
sehr zu schätzen und werde alles dafür tun, Ihnen die Zeit trotzdem so angenehm wie möglich zu machen.«
»Danke«, sie zögerte. »Und wer kommt morgen?«
»Unser Nettester«, log ich, denn ich wusste, dass Robert selbst den Job nicht übernehmen konnte, leider. Er wäre meine erste Wahl gewesen. Nicht nur menschlich – Frau Mühlthaler konnte ihn gut leiden –, auch als Nahbeobachter. Was einfach klingen mag, ist in Wirklichkeit ein Knochenjob, der höchste Konzentration erfordert. Jede Überwachung weist Lücken auf. Je weniger Lücken, desto besser. Unterbrechungen wie die kurze Toilettenpause sind nicht das Problem. Die größte Gefahr besteht, wenn die Gedanken abschweifen – Liebeskummer, Urlaubsplanung, die kranke Tochter mit vierzig Grad Fieber, bevorstehendes Konfliktgespräch, Weihnachten, To-do-Liste, Einkaufszettel – wenn man unaufmerksam wird und das selbst nicht bemerkt. Man ist körperlich anwesend, schaut aus dem Fenster und sieht nichts. Da hilft es kaum, sich zu sagen: Reiß dich zusammen! Gedanken sind schwerer zu hüten als ein Sack Flöhe – besonders, wenn man private Probleme hat. Liebeskummer ist ein Observationskiller.
Robert gehörte zu den Besten, wenn er auch selbst mittlerweile nur noch selten an vorderster Front aktiv war. Als Chef der Truppe koordinierte er die Einsätze und coachte sein Team. Über ihn ging das Gerücht, er würde bei einer Observation niemals seinen Platz verlassen. Niemals bedeutete, dass er dann auch nicht zur Toilette musste.
Es ärgerte mich, dass wir so lange gebraucht hatten, um zu erkennen, dass Andreas keine gute Wahl war. Wir hätten ihn längst austauschen sollen, das ist das übliche Vorgehen in solchen Situationen. Beim Geheimdienst steht oft so viel auf dem Spiel, dass man nicht lange zögert und Mitarbeiter wechselt. Die Gelegenheit, sich zu entwickeln, bekommen sie dann in anderen Bereichen.
Mit mehr Zeit und weniger Risiko. Auf solche Maßnahmen wird im normalen Berufsleben gelegentlich verzichtet. Da werden eher Ansagen gemacht, Regeln aufgestellt und Konsequenzen angedeutet. Mit derartigen Versuchen verschwendet ein Agent keine Zeit. Er weiß, dass sich andere eben nicht von heute auf morgen ändern. Und wenn überhaupt, dann nur in einem gewissen Rahmen. Also muss etwas anderes geändert werden. Vielleicht die Umstände. Wenn schnelle Ergebnisse wichtig sind, ist das der Erfolg versprechende Weg.
Für Agenten steht die Lösung im Mittelpunkt. Sie haben sich das Wunschdenken abgeschminkt, alle würden so ticken wie sie, denn sie verfügen über eine professionelle Menschenkenntnis. Sie
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