Ich finde dich
Lanford entfernt war, klingelte mein Handy. Im Auto lief es direkt über die Bluetooth-Freisprechanlage des Radios – es hatte ewig gedauert, bis ich das eingerichtet hatte –, daher sah ich in der Radio-Anzeige, dass es Shanta Newlin war. Sie hatte versprochen, mir spätestens heute Abend Natalies Adresse zu geben. Ich drückte kurz einen Knopf am Lenkrad, um den Anruf anzunehmen.
»Hier ist Shanta«, sagte sie.
»Ja, ich weiß. Ich hab so eine Anruferkennung.«
»Und da hab ich immer gedacht, ich hätte in meiner Zeit beim FBI ganz neue Dinge gelernt«, sagte sie. »Wo bist du gerade?«
»Ich bin auf dem Rückweg nach Lanford.«
»Auf dem Rückweg von wo?«
»Ist eine lange Geschichte«, sagte ich. »Hast du die Adresse?«
»Deshalb rufe ich an«, sagte Shanta. Im Hintergrund hörte ich etwas – vielleicht eine Männerstimme. »Ich hab sie noch nicht.«
»Oh?«, sagte ich. Was hätte ich auch sonst sagen sollen? »Gibt’s irgendwelche Probleme?«
Nach einer Pause, die einen Moment zu lange dauerte, sagte sie: »Gib mir einfach bis morgen früh Zeit.« Dann legte sie auf.
Was zum Teufel?
Ihr Ton gefiel mir nicht. Und die Tatsache, dass eine Frau mit allerbesten Kontakten zum FBI bis morgen früh brauchte, um die Adresse einer zufällig ausgewählten Frau in Erfahrung zu bringen, gefiel mir ebenso wenig. Mein Smartphone piepte und signalisierte, dass ich eine E-Mail bekommen hatte. Ich ignorierte es. Ich bin kein Musterknabe oder so etwas, aber wenn ich fahre, schreibe ich nie SMS oder E-Mails. Vor zwei Jahren wurde ein Student aus Lanford schwer verletzt, als er beim Fahren eine SMS schrieb. Die junge Frau auf dem Beifahrersitz, eine Erstsemesterstudentin aus meinem Rechtsstaats-Seminar, war bei dem Unfall umgekommen. Aber auch bevor mir noch einmal so überdeutlich vor Augen geführt worden war, wie dumm, wenn nicht gar kriminell fahrlässig das Simsen während der Fahrt war, hatte ich es vermieden. Ich fahre gerne Auto. Ich mag die Einsamkeit und die Musik. Denn trotz der gerade erwähnten Bedenken bezüglich des Technologie-Entzugs müssten wir uns viel häufiger ausklinken. Mir ist klar, dass das wie die Nörgelei eines alten Mannes klingt, der sich darüber beklagt, dass in jeder Gruppe von Studenten praktisch alle Nachrichten an unsichtbare Dritte schreiben, weil sie auf Kosten ihrer Begleiter ständig auf der Jagd nach etwas noch Interessanterem sind, auf einer nicht enden wollenden Suche nach grüneren digitalen Weiden, in der vergeblichen Hoffnung, den Duft ferner Rosen zu erhaschen. Aber ich bleibe dabei, dass ich selten stärker in mir ruhe, mehr mit mir im Reinen bin, sozusagen ganz Zen bin, als in den Momenten, in denen ich mich zwinge, mich auszuklinken.
Jetzt suchte ich gerade einen Radiosender und entschied mich für einen, der New Wave und Alternative Rock aus den Achtzigern spielte. General Public fragte soeben, wo die Tenderness geblieben sei. Das fragte ich mich auch. Wo war die Zärtlichkeit? Und, was das betraf, wo war Natalie?
Offensichtlich schnappte ich langsam über.
Ich parkte vor meiner Bleibe – ich nannte es nicht mein Haus oder meine Wohnung, weil es ein Campus-Quartier war und sich auch so anfühlte. Die Nacht hatte sich herabgesenkt, der Campus war jedoch gut beleuchtet. Ich checkte die neu angekommene E-Mail. Sie war von Mrs Dinsmore. Der Betreff lautete:
Hier ist die Studentenakte, die Sie sehen wollten
Gute Arbeit, du scharfes Luder, dachte ich, klickte auf die Nachricht und las den kompletten Text:
Wie viele Erklärungen brauchen Sie denn noch? »Hier ist die Studentenakte, die Sie sehen wollten.«
Ganz offensichtlich lautete die Antwort: keine.
Auf dem kleinen Handy-Display konnte ich die angehängte Datei nicht erkennen, also ging ich schnell hinein, um sie auf dem Laptop anzusehen. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Haustür und schaltete das Licht an. Aus irgendeinem Grund rechnete ich damit, dass es drinnen wie auf einem Schlachtfeld aussehen würde, weil jemand, wie man so sagte, die ganze Bude auf den Kopf gestellt hatte. Ich hatte eindeutig zu viele Krimis gesehen. Meine Bleibe war, wenn man es freundlich ausdrücken wollte, unscheinbar.
Ich ging direkt zum Laptop und rief die E-Mails auf, öffnete die Mail von Mrs Dinsmore und lud den Anhang herunter. Wie schon erwähnt, hatte ich mir vor Jahren meine eigene Studentenakte angesehen. Ich fand es damals etwas beunruhigend, Kommentare von Professoren zu lesen, die man mir als
Weitere Kostenlose Bücher