Ich finde dich
mich zu deiner Hochzeit eingeladen. Warum? Warum diese Grausamkeit … oder wolltest du mir einbläuen, dass es Zeit war weiterzuziehen und dich zu vergessen?
Ich bin weitergezogen. Ich habe mir in die Brust gegriffen, mir das Herz herausgerissen, es zerfetzt und bin weggegangen, aber bevor ich weiterzog, hatte ich die Reste aufgesammelt.
Ich schüttelte den Kopf. Die Reste aufgesammelt? Mein Gott, das war ja furchtbar. Das ist das Problem, wenn man sich verliebt. Man klingt ein bisschen wie ein schlechter Country Song.
Natalie hatte mir eine E-Mail geschickt. Zumindest nahm ich an, dass sie von Natalie war. Von wem sollte sie sonst sein? Wie auch immer, selbst wenn sie mich nur aufforderte, mich von ihr fernzuhalten, immerhin hatte sie sich gemeldet. Sie hatte Kontakt zu mir aufgenommen. Kontakt? Natürlich. Aber sie hatte diese E-Mail-Adresse benutzt. RSvonJA. Sie erinnerte sich daran. Es hatte ihr etwas bedeutet. Etwas, das noch immer nachhallte, und das gab mir … ich weiß nicht … Hoffnung. Hoffnung ist grausam. Hoffnung erinnerte mich an das, was einmal fast gewesen wäre. Die Hoffnung brachte den körperlichen Schmerz zurück.
Ich rief Eileen Sinagra auf, eine meiner klügsten Studentinnen. Sie begann einen der komplexeren Punkte aus den Federalist Papers von James Madison zu erläutern. Ich nickte, forderte sie auf fortzufahren, als ich im Augenwinkel etwas sah. Ich trat näher ans Fenster, um mir das genauer anzugucken. Dann erstarrte ich.
»Professor Fisher?«
Auf dem Parkplatz stand ein grauer Chevy-Transporter. Ich betrachtete das Nummernschild. Die Zahlen und Buchstaben konnte ich von hier nicht erkennen, die Farbe und das Muster schon.
Der Transporter war aus Vermont.
Ich überlegte nicht zweimal. Ich dachte nicht darüber nach, dass es wahrscheinlich nichts zu bedeuten hatte, dass graue Chevrolet-Transporter alles andere als selten waren und es in West-Massachusetts viele Vermonter Nummernschilder gab. Das alles spielte keine Rolle.
Ich war schon auf dem Weg zur Tür, als ich rief: »Ich bin gleich zurück, bleiben Sie hier.« Dann sprintete ich den Flur entlang. Der Fußboden war frisch gewischt. Ich schlitterte um das ACHTUNG RUTSCHGEFAHR -Schild herum und stieß die Tür auf. Der Parkplatz war auf der anderen Seite der Rasenfläche. Ich sprang über einen Busch und rannte so schnell ich konnte. Meine Studenten mussten mich für vollkommen übergeschnappt halten. Es war mir egal.
»Laufen Sie, Professor Fisher! Sie kriegen ihn!«
Ein Student schien wirklich zu glauben, ich wollte mitspielen, und warf mir einen Frisbee zu. Ich ließ ihn neben mir zu Boden fallen und rannte weiter.
»Hey, Mann, Sie müssen dringend an Ihrer Fangtechnik arbeiten.«
Ich beachtete ihn nicht. Als ich mich dem Chevy-Transporter näherte, gingen die Lichter an.
Der Fahrer startete den Motor.
Ich beschleunigte noch einmal. Die Sonne spiegelte sich in der Windschutzscheibe, so dass ich das Gesicht des Fahrers nicht sehen konnte. Ich senkte den Kopf und stürmte weiter, aber der Chevy fuhr rückwärts aus der Parklücke. Ich war zu weit weg. Ich würde es nicht schaffen.
Der Fahrer legte den Vorwärtsgang ein.
Ich blieb stehen und versuchte, den Fahrer zu erkennen. Keine Chance. Zu viele Spiegelungen, aber ich bildete mir ein, der Fahrer trüge … eine kastanienbraune Baseballkappe?
Sicher war ich allerdings nicht. Ich prägte mir noch das Kennzeichen ein – als würde das etwas helfen, mich irgendwie voranbringen –, dann stand ich keuchend da und starrte dem davonrasenden Transporter hinterher.
ELF
P rofessor Eban Trainor saß auf der Veranda vor seiner prächtigen neoviktorianischen Villa. Ich kannte das Haus gut. Ein halbes Jahrhundert lang hatte mein Mentor Professor Malcolm Hume darin gewohnt. Wir hatten viele schöne Stunden darin verbracht. Weinproben des Fachbereichs Politikwissenschaft, Mitarbeiterpartys, spätnächtliche Cognacs, philosophische Diskussionen, literaturwissenschaftliche Dispute – und alles, was mit der akademischen Welt zu tun hatte. Doch leider hat Gott einen originellen Humor. Nach achtundvierzig gemeinsamen Ehejahren war Professor Humes Frau gestorben, und seitdem ging es mit seiner Gesundheit bergab. Schließlich hatte er sich nicht mehr allein um das große, alte Haus kümmern können. Er residierte jetzt in einer geschlossenen Wohnanlage in Vero Beach, Florida, während Professor Eban Trainor, den man, etwas überspitzt, vielleicht als meinen einzigen Feind auf dem
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