Ich finde dich
tief versunken in die Ausführungen von Hitlers Hund.
Ich ging zu ihr. Sie sah direkt durch mich hindurch.
»Die Hütte auf Ihrem Bild. Wo ist die?«
»Was?« Sie schreckte auf. »Nirgends. Welches Bild?«
Ich runzelte die Stirn. »Sind Sie nicht Natalie Avery?«
»Ich?« Die Frage schien sie zu verwirren. »Doch, wieso?«
»Das Bild von der Hütte. Es gefällt mir sehr. Es … ich weiß nicht. Es hat mich bewegt.«
»Hütte?« Sie richtete sich auf, nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen. »Klar, natürlich, die Hütte.«
Wieder runzelte ich die Stirn. Ich weiß nicht, was für eine Reaktion ich erwartet hatte, auf jeden Fall etwas Eindeutigeres. Ich blickte zu ihr hinunter. Manchmal bin ich nicht unbedingt ein Blitzmerker, als sie sich dann aber noch einmal die Augen rieb, begriff selbst ich.
»Sie haben geschlafen«, sagte ich.
»Was?«, sagte sie. »Nein.«
Doch sie rieb sich weiter die Augen.
»Heilige Scheiße«, sagte ich. »Deshalb haben Sie die Sonnenbrille getragen. Damit man es nicht sieht.«
»Pst.«
»Sie haben die ganze Zeit geschlafen.«
»Nicht so laut.«
Schließlich sah sie zu mir hoch, und ich weiß noch, dass ich dachte, was für ein schönes, freundliches Gesicht. Bald sollte ich erkennen, dass Natalie etwas besaß, was ich als langsam wirkende Schönheit bezeichnen möchte, eine Schönheit, die man nicht sofort bemerkte, die einem erst später bewusst wurde und dann immer weiter zunahm, so dass sie mit jedem Mal, wenn man sie sah, schöner wurde und man sich irgendwann nicht mehr vorstellen konnte, dass man sie jemals für etwas anderes als absolut atemberaubend gehalten hatte. Wenn ich Natalie sah, reagierte ich am ganzen Körper, als wäre es das erste Mal – oder besser.
»War das so offensichtlich?«, flüsterte sie.
»Ganz und gar nicht«, sagte ich. »Ich habe Sie nur für ein prätentiöses Arschloch gehalten.«
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Gibt es eine bessere Tarnung, um in dieser Gruppe nicht aufzufallen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Und als ich Ihre Bilder gesehen habe, hielt ich Sie für ein Genie.«
»Ehrlich?« Auf das Kompliment war sie offenbar nicht gefasst gewesen.
»Ehrlich.«
Sie räusperte sich. »Und jetzt, wo Sie gesehen haben, wie sehr der Schein trügen kann?«
»Jetzt halte ich Sie für ein diabolisches Genie.«
Das gefiel Natalie. »Sie können mir das nicht vorwerfen. Dieser Lars ist ein wandelndes Schlafmittel. Sobald er den Mund aufmacht, bin ich weg.«
»Ich bin Jake Fisher.«
»Natalie Avery.«
»Sollen wir einen Kaffee trinken, Natalie Avery? Wie es aussieht, könnten Sie einen brauchen.«
Sie zögerte, betrachtete mein Gesicht, und zwar so lange, dass ich rot anlief. Sie schob sich eine schwarze Locke hinters Ohr und stand auf. Dann kam sie näher, und ich erinnere mich, dass ich dachte, wie wunderbar zierlich sie ist, kleiner, als ich gedacht hatte, als ich sie auf dem Stuhl sitzen sah. Sie musste weit zu mir heraufblicken, und langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Es war ein tolles Lächeln. »Klar, wieso nicht?«
Das Bild dieses Lächelns verharrte noch einen Moment lang in meinem Gehirn, bevor es gnädigerweise verblasste.
Ich war draußen in der Bibliotheksbar mit Benedict. Die Bibliotheksbar war praktisch genau das, was der Name besagte: eine alte Campus-Bibliothek mit dunkler Holzeinrichtung, die vor Kurzem in ein trendiges Etablissement im Retrostil verwandelt worden war. Die Besitzer waren klug genug gewesen, so wenig wie möglich an der alten Bibliothek zu verändern. Die Bücher standen noch in alphabetischer Reihenfolge in ihren Eichenregalen, nach Dezimalklassifikation oder in welchem bibliothekarischen Ordnungssystem auch immer. Die alte Ausleihtheke diente jetzt als Tresen. Die Bierdeckel waren laminierte, alte Dateikarten. Grüne Bibliothekslampen beleuchteten den Raum.
Die jungen Bardamen hatten ihr Haar zu strammen Knoten gebunden und trugen konservative, taillierte Kleidung und – natürlich – Hornbrillen. Ja, die heiße Bibliothekarin-Braut aus Jugendfantasien. Einmal pro Stunde wurde ein lautes Bibliothekarinnen- Pst über die Lautsprecher eingespielt, woraufhin die Bardamen sich die Brillen von den Nasen rissen, die Haarknoten und die obersten Knöpfe ihrer Blusen öffneten.
Etwas billig, aber es funktionierte.
Benedict und ich gaben uns richtig die Kante. Ich legte meinen Arm um seine Schulter und beugte mich zu ihm hinüber. »Weißt du, was wir tun sollten?«, fragte
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