Ich finde dich
blieb bei einem Foto hängen: ein Gruppenbild sämtlicher Professoren und Mitarbeiter vor dem Clark House. Professor Kleiner stand neben dem Fachbereichsvorsitzenden Malcolm Hume. Auf diesem Foto lächelten die Personen natürlicher und entspannter. Mrs Dinsmore sah trotzdem aus, als wäre sie ungefähr hundert Jahre alt.
Moment. Mrs. Dinsmore …
Ich klemmte mir eins der Jahrbücher unter den Arm und eilte zum Clark House. Es war schon Feierabend, aber Mrs Dinsmore lebte praktisch im Büro. Ja, ich war suspendiert und durfte den Campus nicht betreten, ging aber nicht davon aus, dass die Campus-Polizei sofort das Feuer auf mich eröffnete, sobald sie mich sah. Also ging ich mit einem Buch unter dem Arm, das ich nicht regulär aus der Bibliothek geliehen hatte, zwischen den Studenten hindurch über den Campus. Da sieht man mal wieder, wie schnell man auf die schiefe Bahn gerät.
Ich erinnerte mich wieder daran, wie ich vor sechs Jahren mit Natalie hier entlangspaziert war. Warum hatte sie nichts gesagt? Hatte es irgendwelche Anzeichen gegeben? War sie stiller geworden, oder hatte sie ihre Schritte verlangsamt? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste nur noch, wie ich fröhlich vom Campus geplappert hatte wie ein Erstsemester-Fremdenführer nach zu vielen Red Bulls.
Mrs Dinsmore sah mich über ihre halbmondförmige Lesebrille hinweg an. »Ich dachte, Sie wären rausgeflogen?«
»Mein Körper vielleicht«, sagte ich. »Mit dem Herzen bin ich jedoch immer bei Ihnen.«
Sie verdrehte die Augen. »Was wollen Sie?«
Ich legte das Jahrbuch vor ihr auf den Tisch und schlug die Seite mit dem Gruppenbild auf. Ich deutete auf Natalies Vater. »Erinnern Sie sich an Professor Aaron Kleiner?«
Mrs Dinsmore ließ sich Zeit. Sie nahm die mit einer Kette um den Hals befestigte Lesebrille ab, reinigte sie mit zittrigen Händen und setzte sie wieder auf. Ihr Gesicht war immer noch versteinert.
»Ja, ich erinnere mich an ihn«, sagte sie leise. »Warum fragen Sie?«
»Wissen Sie, warum er gefeuert wurde?«
Sie sah mich an. »Wer sagt denn, dass er gefeuert wurde?«
»Oder warum er gegangen ist? Können Sie mir etwas darüber sagen, was mit ihm passiert ist?«
»Er war seit fünfundzwanzig Jahren nicht hier. Als er ging, müssen Sie ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein.«
»Ich weiß.«
»Warum fragen Sie dann?«
Ich wusste nicht, wie ich auf die Frage reagieren sollte. »Erinnern Sie sich an seine Kinder?«
»Zwei kleine Mädchen. Natalie und Julie.«
Ohne jedes Zögern. Das überraschte mich. »Sie wissen ihre Namen noch?«
»Was ist mit ihnen?«
»Ich habe vor sechs Jahren in einem Refugium oben in Vermont Natalie kennengelernt. Wir haben uns ineinander verliebt.«
Mrs Dinsmore wartete, dass ich weitersprach.
»Ich weiß, dass es verrückt klingt, aber ich suche sie. Ich nehme an, dass sie in Gefahr ist, und womöglich hat das etwas mit ihrem Vater zu tun. Genau weiß ich das allerdings nicht.«
Mrs Dinsmore sah mich noch ein oder zwei Sekunden lang an. Sie ließ die Lesebrille auf die Brust fallen. »Er war ein guter Lehrer. Sie hätten ihn gemocht. Seine Seminare waren sehr lebendig. Er hat die Studenten richtig in Schwung gebracht.«
Sie senkte den Blick wieder und betrachtete das Foto im Jahrbuch.
»Ein paar von den jüngeren Professoren hatten damals noch die Aufsicht über Wohnheime. Aaron Kleiner war einer von ihnen. Er wohnte mit seiner Familie im Erdgeschoss des Tingley-Wohnheims. Die Studenten haben sie geliebt. Einmal haben die Studenten zusammengelegt und eine Schaukel für die beiden Mädchen gekauft. Die haben sie dann an einem Samstagvormittag gemeinsam auf dem Hof hinter dem Pratt-House aufgebaut.«
Sie blickte versonnen zur Seite. »Natalie war ein bezauberndes Mädchen. Wie sieht sie heute aus?«
»Sie ist die schönste Frau der Welt«, sagte ich.
Mrs Dinsmore sah mich mit einem schrägen Lächeln an. »Sie sind ein Romantiker.«
»Was ist mit ihnen passiert?«
»Jede Menge«, sagte sie. »Unter anderem gab es Gerüchte über die Ehe.«
»Was für Gerüchte?«
»Die Art von Gerüchten, die auf einem College-Campus immer aufkommen. Kleine Kinder, die Frau hat viel um die Ohren, attraktiver Mann auf einem Campus mit leicht zu beeindruckenden Studentinnen. Ich ziehe Sie gelegentlich wegen der jungen Mädchen auf, die zu Ihnen ins Büro kommen, aber ich habe wirklich schon oft gesehen, wie Karrieren oder sogar das Leben von Menschen durch diese Versuchung zerstört wurden.«
»Er hatte eine
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