Ich gegen Dich
dachte sie an das Shoppingcenter, an dem sie auf dem Weg hierher vorbeigefahren waren. Es lag jenseits des Parkplatzes und hinter dem Gerichtsgebäude; bald würde es geöffnet sein, und Leute würden reingehen, um Lebensmittel, Zeitungen und andere Dinge des täglichen Bedarfs einzukaufen, Kinder und Tragetaschen an der Hand, und über die Preise schimpfen. Es war tröstlich zu wissen, dass sich die wirkliche Welt wie immer weiterdrehte, ganz gleich, was heute Vormittag mit ihrer Familie geschah.
Sie machte die Augen auf und bedachte Tom mit einem, wie sie hoffte, beruhigenden Lächeln.
»Was?«, sagte er.
»Wie, was?«
»Was siehst du mich so an?«
»Weiß nicht.«
»Dann lass es.«
»Schon gut, Tom, chill einfach!«
»Ellie!« Mum drehte sich auf ihrem Sitz um.
»Ich hab ihm nur zugelächelt!«
»Hör auf damit.«
Ellie ließ sich zurücksinken. Sie wünschte, sie wäre alt. Sie würde ihr Leben gern gegen eins eintauschen, das fast vorbei war, wenn sie nur nicht mehr hier sein musste. Du bist die Hauptentlastungszeugin, sagte Dad immer wieder, du musst klarstellen, dass du ganz auf seiner Seite bist.
Sie hatten von ihr verlangt, den Rock mit Bluse anzuziehen, den sie zu Großvaters Beerdigung getragen hatte. Der schwarze Nylonrock klebte elektrisch geladen an ihren Oberschenkeln. Die Bluse war dunkelgrau. Sie hatte sich im Flurspiegel betrachtet, bevor sie ins Auto eingestiegen war.
»Ich seh aus wie eine Nonne.«
»Du siehst genau richtig aus«, hatte ihre Mutter gesagt.
Sie wollten was Heiliges. Keinen knallroten Nagellack und lila Lippenstift zu einem feurig-orangenen Minirock, der über den Oberschenkeln spannte. Das hier war der Aufzug für brave Mädchen.
Tom richtete sich plötzlich auf. »Wer sind die ganzen Leute?«
Eine kleine Menschenmenge passierte das Tor. Neun oder zehn Jugendliche, die zum Haupteingang strömten.
»Kommen die wegen uns?« In seiner Stimme schwang Panik mit.
Ellie presste ihre Nase gegen die Scheibe. Die Gruppe war am Fuß der Haupttreppe stehengeblieben. Ein Mädchen überprüfte sein Handy. Zwei Jungs setzten sich.
»Die Türen sind noch nicht geöffnet«, sagte Ellie. »Sie können nicht rein.«
Tom spähte an ihr vorbei. »Das Mädel da mit der blauen Jacke«, sagte er, »die kenn ich vom College. Die andere neben ihr auch!«
Jetzt geriet er richtig in Panik. Er sah verzweifelt und verschwitzt aus, und es schien ihm nichts auszumachen, dass alle ihn so sahen. Ellie versuchte, auf Worte zu kommen, die helfen könnten, aber ihr fiel nichts anderes ein als scharfe, ärgerliche Aussagen wie selber schuld und nein und... Halt! Das bist du, dachte sie. Das ist dein wahres verängstigtes Ich. Hast du gewusst, dass du das bist, bevor das hier losging?
»Lass dich von diesem Pöbel nicht einschüchtern«, sagte Dad. »Komm schon, Tom, reiß dich am Riemen.«
Ellie spürte, wie sie eine seltsame Ruhe befiel. Wenn Tom es nicht schaffte, dann durften sie vielleicht nach Hause. Vielleicht würde er wirklich verrückt werden, und sie würden einen Krankenwagen rufen, und dann konnten sie und ihre Eltern irgendwo, wo es hübsch war, Kaffee trinken und Kuchen essen gehen und ihn einfach vergessen. Tom holte ein paar Mal tief Luft und stieß sie so wieder aus, als würde er Rauchringe blasen. Vielleicht hyperventilierte er. Konnte man daran sterben?
»Warum sind die überhaupt hier?«, fragte Tom. »Was geht das die an?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Dad. »Es ist Wahnsinn. Jeder darf einer Anhörung beiwohnen, aber was für einen Kick sich dieses Pack davon verspricht, kann ich dir nicht verraten.«
Jeder konnte kommen? Warum hatte er ihr davon nichts gesagt? Er hatte gesagt, es werde langweilig werden, eine reine Formalität, nur Anwälte, die mit Papierkram um sich schmissen, in einer Stunde wäre alles vorbei. Du wirst nicht aussagen müssen, hatte er gesagt. Wir wollen einfach Eindruck auf die Staatsanwaltschaft machen, indem wir geschlossen antreten.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, verlangte sie zu wissen. »Warum hast du nicht gesagt, dass es eine öffentliche Anhörung ist?«
Ihr Dad schwenkte auf seinem Sitz herum. »Das erschien mir irrelevant, Eleanor, werd jetzt also bitte nicht hysterisch. Die Aussichten, dass irgendwer hier aufkreuzen würde, waren gleich Null.«
»Und die da«, fauchte Tom. »Die kenn ich auch.« Noch eine Gruppe war durchs Tor gekommen, und Tom stieß den Finger gegen das Fenster. »Die war in dieser Nacht bei uns zu
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