Ich gegen Dich
Ist das nicht schön?«
Drei Gänse flogen schnurgerade durch den Himmel. Die Wolken um sie her bauschten sich auf und verdüsterten sich. Selbst die Vögel in ihrem schnellen Flug schienen es zu merken.
»Siehst du, was ich mit Verführtwerden meine?«, sagte Mum. Sie seufzte und sah auf ihre Uhr. »Glaubst du, Barry will was zu essen? Ich hab nämlich nicht die geringste Ahnung. Dad hat ihn zur Beruhigung unserer Nerven zu uns eingeladen, aber vielleicht erwartet er ja nur ein Glas Wein oder eine Tasse Tee. Ich will den Mann nicht in Verlegenheit bringen, indem ich ihm ein Mittagessen anbiete. Was denkst du, was das Übliche ist?«
»Weiß nicht, Mum. Ich hab nicht mal gewusst, dass er vorbeikommt, und ich hab null Ahnung, was bei Anwälten üblich ist.«
Ihre Mutter lächelte matt. »Nein, natürlich nicht.« Sie lehnte im Türrahmen und hielt sich zur Kühlung das Weinglas an die Wange.
»Mum, ich muss dir was sagen.«
Ihre Mutter nickte, sah aber so müde aus. »Du kannst mit mir über alles reden.«
Die Standardantwort.
Ein, zwei, drei Regentropfen, dick und schwer, platschten auf den Weg. Ellie nestelte an einem Knopf ihres Kleides rum – knöpfte ihn auf und zu.
»Karyn McKenzie sagt die Wahrheit.«
Daran, dass ihre Mutter still war, aber plötzlich die Zähne zusammenbiss, merkte sie, dass sie sie gehört hatte.
»Du solltest dir sehr sorgfältig überlegen, ob du das wirklich weiter ausführen möchtest, Ellie.«
»Ich überlege seit Wochen sorgfältig. Ich komm aus dem Überlegen gar nicht mehr raus.«
Ihre Mum schüttelte ganz langsam den Kopf, als hätte Ellie mit etwas Greifbarem nach ihr geworfen, einem Stock, der sich in ihrem Haar verfangen hätte.
»Toms gesamte Zukunft steht auf dem Spiel. Mach es nicht schlimmer, als es ohnehin schon ist.«
»Aber ich muss ständig wieder an diese eine Nacht denken, und mir fällt immer mehr ein, mehr Puzzleteile, die zusammengehören. Ich muss andauernd an Karyn denken, und wie schlimm es für sie ist und dass es nicht richtig ist, wenn ich nicht sage, was ich weiß.«
»Nicht richtig?« Mit Weinflecken in den Mundwinkeln wandte sich ihre Mutter zu ihr um. »Der Ruf deines Bruders ist zerstört. Sein erstes Studienjahr geht den Bach runter, sein Selbstvertrauen ist dahin. Ist irgendwas davon etwa richtig?« Ihre Stimme zitterte, in den weit aufgerissenen Augen standen die Tränen. »Jetzt ist nicht die Zeit für Zweifel.«
»Was soll ich also mit den Sachen machen, die mir immer wieder einfallen?«
»Du hattest genug Gelegenheit«, fauchte Mum. »Die Polizei hat dich verhört, und du hast deine Zeugenaussage gemacht. Du hast ihnen alles erzählt, was in der Nacht passiert ist.«
Nicht ganz. Ich hab noch nicht mal damit angefangen.
»Du hast also nie an ihm gezweifelt, Mum?«
Eine Pause kam auf. Sie hatte Gewicht, war wie mit Händen zu greifen, wie ein Stein aus dem Garten.
»Mach die Tür auf, Ellie.«
»Was?«
»Es hat geklingelt. Das wird Barry sein.«
»Aber das hier ist wichtig!«
»Also lassen wir ihn vor verschlossener Tür stehen, ja?« Mit zitternden Lippen leerte ihre Mutter das Weinglas. »Ach was, geh einfach weg, wenn du ihn nicht reinlassen willst. Und du brauchst nicht eher wiederzukommen, als bis du gelernt hast, dich zu beherrschen.«
Ellies Atem ging heiß und stoßweise, während sie über den Rasen lief. Sie fühlte sich, als hätte sie Fieber, wie damals, als sie eine Mandelentzündung hatte. Vielleicht war sie krank, richtig krank, körperlich wie geistig. Vielleicht war es so, wenn man einen Nervenzusammenbruch hatte – die Gefühle quollen aus einem raus. Sie setzte sich auf die Bank unter dem Nussbaum und kämpfte gegen ihre Tränen an.
Auf ihrer Schule gab es einen Jungen namens Flynn, dessen Eltern um drei Uhr morgens von der Polizei geweckt wurden, um zu erfahren, dass ihr Sohn festgenommen war. Sie sagten, es müsse sich um eine Verwechslung handeln, ihr Sohn würde tief und fest in seinem Bett schlafen. Aber als sie nachsahen, war er weg. Er war aus seinem Fenster geklettert und sprayen gegangen. Er wurde mit Spraydosen und einem Haufen Gras in den Taschen aufgegriffen.
Eltern kennen ihre Kinder überhaupt nicht.
Genau genommen kennt niemand irgendwen. Ihr Bruder konnte ein Vergewaltiger sein. Mikey konnte ein Held sein.
Jetzt regnete es in Strömen, platschte von den Blättern über ihr. Selbst das Gras, dunkelblau in der Dämmerung, sah wie gekräuseltes Wasser aus. Sie zog die Knie an die Brust und
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