Ich gegen Osborne
in Ihrem Leben präsent?« Das war meine Antwort:
»In 1984 ist der Große Bruder ein Etwas, dessen Ziel lautet, die Massen zu überwältigen, zu unterdrücken und letztlich zu entmenschlichen. Heute gibt es in der Realität tatsächlich so etwas. Doch unser Großer Bruder ist weder die Regierung noch unsere Eltern, die Polizei oder Mr. Shankly. Es sind wir. Genauer gesagt ist es etwas, das ich gern die Große Dumme Hurerei nenne, zu der wir alle gehören. Es ist das System, in dem wir leben und das uns alle in hirnlose Körper verwandelt. Es ist der zentrale betäubende Wirkstoff der Jahrtausendwende. So, wie niemand genau die Ursprünge des Großen Bruders kannte, bin ich mir nicht sicher, wie die Große Dumme Hurerei entstand. Vielleicht hat die vom Big Business geführte Regierung sie geschaffen. Oder vielleicht haben wir sie selbst geschaffen, und das [334] Establishment hat nur für ihr Weiterbestehen gesorgt, als es merkte, wie profitabel sie ist. Wer weiß? Ich schätze, wir nähren sie und sie nährt uns. Sie überwältigt, unterdrückt und entmenschlicht uns, ist aber effizienter als der Große Bruder, weil wir uns alle gegenseitig überwachen, und wir sind alle unsere eigenen Obrigkeiten, daher gibt es kein Entkommen. Einen letzten Punkt kann ich gar nicht genug betonen: Die Große Dumme Hurerei hält die Welt zwar in einem Zustand des Niedergangs, doch es gibt noch Hoffnung, solange der Einzelne innerhalb der Hurerei leben, aber selbständig denken kann.«
Ich las mir den Text noch mal durch und machte mir Sorgen, wie ich dadurch wirken mochte (zu melodramatisch? zu jugendlich?), doch als ich hörte, was in den Gruppen um mich herum geredet wurde, beschloss ich, kein Wort zu ändern.
»Einer von euch muss mir sagen, was ich schreiben soll, weil ich das Scheißbuch nicht mal aufgeschlagen hab.«
»Ich auch nicht. Ich hasse lesen, verdammt.«
»Wau, wau.«
Der hyperaktive Schönling baumelte oben am Türrahmen. Der Junge hinter mir hatte fünf Bleistifte in der Decke stecken. Und der Junge, der mit seinem Stuhl kippelte, konnte gerade noch verhindern, dass er rückwärts umfiel.
»Das Buch ist sowas von dusslig. 1984 ist längst vorbei, aber nichts von allem ist passiert.«
»Ich finde es bescheuert, dass sie’s uns überhaupt lesen ließ. Das hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«
»Aber Ms. Leslie, Sie verstehen nicht! Ich muss auf die Toilette, weil ich meine Antibabypille nehmen muss.«
[335] »Ich hasse lesen.«
All das erinnerte mich daran, wie sinnlos es wäre, meinem Traum zu folgen, Romancier zu werden. In der Welt der Großen Dummen Hurerei war ein Buch kaum mehr als eine unnütze Antiquität. Genauso gut könnte ich davon träumen, hochwertige Damenhandschuhe herzustellen.
»Also gut, Leute. Ich höre jede Menge Diskussionen, aber die scheinen sich nicht um 1984 zu drehen. Für den Fall hat mir Mrs. Hegstrand eine Notiz dagelassen, aus der hervorgeht, falls Sie Ihre Arbeit nicht machen, soll das Arbeitsblatt am Unterrichtsende abgegeben und benotet werden. Sie haben keine zwanzig Minuten mehr, also frisch ans Werk.«
Obwohl ich die Aufgabe beendet hatte, beschloss ich, sie erst am Ende der Stunde abzugeben. Wenn ich das Arbeitsblatt noch behielt, konnte ich wenigstens so tun, als wäre ich beschäftigt. Ich kritzelte auf dem Blattrand herum und belauschte Sweeneys Gruppe.
»Haltet alle mal die Klappe. Ich falle durch. Wir müssen das machen.«
»Scheiße. Mir egal. Ich komm in dem Kurs sowieso auf keinen grünen Zweig mehr, ist also jetzt nicht mehr wichtig.«
»Ich glaub, ich hab ’ne Vier. Wahrscheinlich muss ich’s machen. Von euch hat also keiner das Buch gelesen?«
Dann flüsterten sie hin und her.
Ich kritzelte weiter. Aus dem Nichts tauchte eine Idee für ein Symbol in meinem Kopf auf, das ich in Neurotica verwenden konnte. Auf einem Zettel notierte ich mir die Idee (nur für den Fall, dass ich eines Tages beschloss, mein Buch [336] doch fertigzustellen). Ich faltete den Zettel und steckte ihn gerade in meine Brieftasche, als ich plötzlich eine coole, ghettomäßige Stimme sagen hörte: »Hey, Weinbach.«
Ich drehte mich um und sah, dass Sweeney und seine Gruppe mich ansahen. »Was ist?«
»Warum machst du nicht in unserer Gruppe mit?«
13 . 56 Sweeneys Gruppe bestand aus Morgan, dem bösen Mädchen mit dem Pferdeschwanz, dem springenden Schönling und einem Jungen, der eigentlich letztes Jahr seinen Abschluss hätte machen sollen. Er war der,
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