Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich gegen Osborne

Ich gegen Osborne

Titel: Ich gegen Osborne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joey Goebel
Vom Netzwerk:
und dessen hatte auch ich mich heute schuldig gemacht. Doch dann hörte ich den dritten Leser etwas über Menschen sagen, die Automaten werden, und mein Interesse war geweckt.
    Laut unserem Lehrbuch hatte Orwell mit 1984 davor warnen wollen, dass wir eines Tages die Eigenschaften vergessen könnten, die uns überhaupt erst zu Menschen machen, wie die Fähigkeit, kritisch zu denken oder zu lieben. Dieser Abschnitt wurde von dem Anführer einer Gruppe gelesen, die so erbarmungslos einen mädchenhaften Unterstufenschüler gemobbt hatte, dass der die Schule abbrach.
    Orwells pessimistischer Ausblick auf die Zukunft der Menschheit befand sich, laut unserem Text, nicht im [331]  Einklang mit der gängigeren Tradition des Optimismus im kulturellen Diskurs. Von den alten Griechen über das Alte Testament mitsamt dessen Hoffnung auf das Kommen eines Messias bis hin zur Aufklärung ging man allgemein davon aus, dass sich die Menschheit ständig weiterentwickelte. Diesen Absatz las ein Junge, den ich einmal dabei beobachtet hatte, wie er eine schwangere Mitschülerin zu Boden stieß, um am Hühnerpastetentag als Erster in der Cafeteria zu sein.
    Doch jede Hoffnung auf ein irdisches Utopia machte die diabolische Gewalt des Ersten Weltkriegs zunichte. (Also nicht Oswalds Kugel, wie ich erfuhr, sondern vielmehr die Kugel eines jungen Mitglieds der Geheimorganisation Schwarze Hand.) Und dann, gegen jede Einsicht und Vernunft, erlebte der Krieg eine sogar noch brutalere zweite Auflage. Für Orwell war der Fortschritt halb unter Asche begraben, halb von der Atombombe in die Luft gejagt worden. Diesen Absatz las Hamilton Sweeney.
    Während der gesamten Lesung taten meine Mitschüler alles in ihrer Macht Stehende, um sicherzustellen, dass sich niemand konzentrieren konnte. Ihre Pieper surrten; ihre Papierflieger flogen; ihre Knöchel knackten; ihr Flüstern wurde lauter; sie rülpsten, sie furzten, sie forderten weinerlich eine Colapause (»Aber Mrs.   Hegstrand lässt uns!«), ja, ich hörte Shitty sogar schnarchen. Trotz der Ablenkungen und trotz meiner Magenschmerzen, die sich in Wellen zurückmeldeten, konnte ich gut genug aufpassen, um die Kernaussage des Textes zu erfassen, dass nämlich die Idee, die Menschheit entwickle sich fort, zu einem niedlichen kleinen Tagtraum unserer Vorfahren werden könnte, wenn [332]  wir nicht aufpassten. Dieser Gedanke half mir, das übergreifende Thema für Neurotica zu finden.
    Allerdings, so rief ich mir wieder einmal in Erinnerung, schrieb ich ja gar nicht mehr.
    13 . 45   »Eins nehmen, weitergeben. Sobald Sie dieses Arbeitsblatt erhalten haben, müssen Sie Vierer- oder Fünfergruppen bilden. Sie sollen als Gruppe die Fragen besprechen und die Antworten finden, aber jeder muss sein eigenes Arbeitsblatt ausfüllen. Also, teilen Sie sich jetzt in Gruppen auf, und ich komme vorbei und schaue, wie Sie vorankommen.«
    Keiner von ihnen hatte die geringsten Schwierigkeiten, eine Gruppe zu finden. Sogar Shitty schloss sich einer Gruppe an, im Schlepptau eines anderen langhaarigen Jungen. Er sah nicht in meine Richtung. Während sie alle ihre Pulte über den Boden schoben, rührte ich mich nicht. Ich würde mich nicht erniedrigen und fragen, ob ich in einer Gruppe mitmachen dürfe, nur um zurückgewiesen zu werden. Sollte mich doch eine Gruppe fragen.
    13 . 46   Wie ich so allein dasaß, umgeben von ausgelassenen Gruppen, kam ich mir vor, als stierte mich der ganze Kurs an und dachte: »Guckt euch den Freak an, wie er allein arbeitet.« Ich schaute auf, wollte sehen, ob Ms. Leslie mir sagen würde, ich solle mich einer Gruppe anschließen, und tatsächlich sah sie mich an. Als sie näher kam, sagte ich: »Ich sollte mich wohl zu einer Gruppe setzen.«
    »Nein. Das wollte ich nicht sagen. Ich wollte sagen, es tut mir leid, dass ich Sie vorhin in Verlegenheit gebracht [333]  habe. Die anderen haben mich so durcheinandergebracht. Das hätte ich nicht tun sollen.«
    »Oh. Ist schon in Ordnung.«
    »Wenn Sie allein arbeiten möchten, bin ich einverstanden.«
    »Danke.«
    Das war nett von ihr, darum fühlte ich mich schuldig, als ich ihr hinterherstarrte.
    Das Arbeitsblatt enthielt sieben Fragen, die kurze Antworten verlangten, einige betrafen das soeben Gelesene, andere den Roman an sich. Dann kam eine letzte Frage, deren Antwort einen ganzen Absatz umfassen sollte. Die ersten sieben Fragen hatte ich in null Komma nichts beantwortet, die letzte Frage lautete: »Auf welche Weise ist der Große Bruder

Weitere Kostenlose Bücher