Ich gegen Osborne
er mich fragte, war er zu dem Schluss gekommen, dass ich ihm unterlegen und es von ihm keineswegs zu viel verlangt war, dass ich mich seinem Willen unterwarf. Hamilton Sweeney hätte er nie und nimmer um diesen Gefallen gebeten.
Aber ich war es, der sich falsch verhielt.
Menschen sind merkwürdig.
9 . 10 Vor dem Chemielabor bückte ich mich, hob einen Druckbleistift ohne Mine auf und steckte ihn in meine Jacketttasche. Als ich eintrat, sah keiner auf. An unserem Arbeitsplatz hatte Stephanie ihren Laborkittel abgelegt. Wahrscheinlich war es nur Einbildung, doch als ich näher kam, schien ihre Miene zu sagen: »Ich möchte, dass du dich an meinen Lenden ergötzt.« Ich ließ mich davon nicht irritieren.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie.
[89] »Großartig. Warum fragst du?«
»Du warst so schnell weg. Ich dachte, vielleicht war das mit dem Kotzen ernst gemeint.«
»Mir geht’s gut, danke. Entschuldige, dass ich dich mit der Arbeit alleingelassen habe.«
»Schon in Ordnung. Die Kristalle haben sich neu formiert. Und ich hab schon mal die restlichen Fragen beantwortet.«
»Danke. Du hättest nicht mehr als deinen Teil machen müssen. Tut mir leid, dass ich kein besserer Laborpartner war.«
»Sie müssen in den nächsten fünf Minuten zum Schluss kommen«, mahnte Ms. Calaway.
»Ich finde, du warst ein phantastischer Laborpartner.« Sie griff sich meinen Schlips und streichelte ihn oder so ähnlich.
»Danke für deine netten Worte. So, nun lass mich wenigstens alles wegräumen.«
»Nein. Ich helfe mit.«
»Bitte. Du hast mehr als genug getan.«
Ich entriss ihr meine Krawatte und wandte mich ab, ehe sie noch etwas sagen konnte. Ich stellte die Lösungen in die Vitrine zurück, und als ich mich umdrehte, hatte Stephanie unseren Arbeitsplatz verlassen und sich zu einem Tennisspieler gesellt, den ich wegen seiner Bemühungen bewunderte, sich mit seiner voluminösen Lockenfrisur von den anderen abzuheben, was mich zugleich beeindruckte und nervte. Stephanie hatte mit dem Jungen Körperkontakt, legte den Arm um ihn und schmiegte sich beim Reden sogar an ihn.
[90] Ich ging zweimal quer durch den Raum, um die Sachen zu verstauen. Als ich meinen Laborkittel aufgehängt hatte, kehrte ich zu meinem Pult zurück, so wie schon zwei andere Schüler vor mir. Sobald ich mich setzte, spürte ich einen besonderen Schmerz. Durch meine letzten Ausflüge zum Klo in den letzten beiden Stunden hatte ich Hämorrhoiden bekommen, was mich immerhin von den versengten Fingerkuppen ablenkte.
Ich holte meine deutschen Vokabeln heraus und prägte sie mir ein – oder versuchte es zumindest, da mir Chloe und Hamilton durch den Kopf tollten und hin und her tanzten. Plötzlich, kurz hinter traurig und scheußlich, schob sich ein Dekolleté in mein Blickfeld.
»Alles klar?«
»Ja. Warum fragst du?«
»Ich sah dich hier ganz allein sitzen und –«
»Mir geht’s gut, danke. Sehr aufmerksam von dir.«
Sie saß mit dem Gesicht in meine Richtung auf dem Stuhl vor mir, und trotz meines Talents, vom anderen Geschlecht ausgesandte Signale falsch zu interpretieren, war diese Botschaft klar und deutlich: Sie wollte, dass ich ihr verdammtes Dekolletee bemerkte. Ich weigerte mich zwar, direkt hinzusehen, war mir aber bewusst, dass der Ausschnitt da war. Ich wünschte, sie würde ihre Dingsdabumsdas wegpacken.
»Hätte ich dir das von Chloe und Hamilton nicht erzählen sollen?«
»Na klar hättest du. Warum denn nicht?«
»Keine Ahnung. Du wirkst irgendwie mitgenommen.«
»Ich bin nicht mitgenommen.«
[91] »Was ich über Chloe gehört habe – das muss ja gar nicht stimmen, weißt du.«
»Das ist mir egal. Ich bin nur… Ich bin wegen etwas aufgeregt, das in meinem nächsten Kurs passiert.«
»Was passiert da?«
»Der ganze Kurs wird einen Textauszug aus meinem Roman kritisieren.«
»Ist das Slims Kurs?«
»Ja.«
»Ihr lest euch also in seinem Kurs gegenseitig vor, was ihr geschrieben habt?«
»Genau. Wir machen Kopien und verteilen sie.«
»Puuh. Sowas hasse ich. Du machst dir also Sorgen, was sie über deinen Text sagen werden?«
»Ich bin gespannt, wie die anderen ihn aufnehmen werden.«
»Er gefällt ihnen bestimmt.«
»Danke.«
»Wovon handelt er?«
»Mein Roman?«
»Ja.«
»Es geht bloß darum, wie grässlich alle sind.«
Sie lachte, hörte aber wieder auf, als sie sah, dass ich keine Miene verzog.
»Bloß darum, wie grässlich alle sind?«
»Ja.«
»Findest du mich grässlich?«
»Du bist eine der
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