Ich hab dich im Gefühl
Wolke nimmt die Form deines Körpers an und legt sich ganz eng um dich, so dass du dich kaum rühren kannst. Und auch nicht atmen. Oder Sport treiben. Oder Verabredungen treffen, geschweige denn mit einer anderen Frau schlafen.«
»Deine Scheidungswolke klingt genau wie meine Ehewolke.«
»Tja, die ist bei mir inzwischen weitergezogen.« Justin blickt hinauf in den grauen Londoner Himmel, schließt einen Moment die Augen und holt tief Luft. »Es ist Zeit für mich, wieder aktiv zu werden.« Als er die Augen wieder aufmacht, rennt er direkt in einen Laternenpfahl. »Scheiße, Al!« Er krümmt sich und hält sich den Kopf. »Danke für die Warnung.«
Mit puterrotem Gesicht schnauft Al ihn an. Worte kommen ihm nur schwer über die Lippen. Wenn überhaupt.
»Vergiss mal die Frage, ob ich Sport nötig habe, und schau
dich
an. Dein Arzt hat dir gesagt, du sollst ein paar hundert Pfund abnehmen.«
»Fünfzig …« – keuch – »sind nicht das Gleiche …« – keuch – »wie ein paar hundert, und fang du jetzt nicht auch noch damit an.« Keuch. »Doris ist schlimm genug.« Schnauf. Hust. »Was sie über Ernährung alles weiß, übersteigt meinen Verstand. Diese Frau isst so gut wie gar nichts. Sie hat schon Angst, an den Nägeln zu kauen, weil die womöglich zu viele Kalorien haben könnten.«
»Sind Doris’ Nägel eigentlich echt?«
»Ja, die Nägel und die Haare. Aber das ist so ungefähr alles. An irgendwas muss ich mich ja halten.« Erledigt sieht Al sich um.
»So genau wollte ich das eigentlich gar nicht wissen«, wehrt Justin ab. »Ich kann nicht glauben, dass ihre Haare echt sind.«
»Außer der Farbe natürlich. Sie ist brünett, wie es sich für eine Italienerin gehört. Schwindlig.«
»Ja, sie macht einen ein bisschen schwindlig. Das ganze Reinkarnationszeug wegen der Frau im Friseurladen«, lacht Justin.
Welchen Grund soll es denn sonst für so was geben?
»Nein,
mir
ist schwindlig.« Wütend funkelt Al seinen Bruder an und hält sich am Geländer fest.
»Oh, klar … ich hab bloß ’n Witz gemacht. Sieht aus, als wären wir fast da. Schaffst du es noch hundert Meter oder so?«
»Kommt ganz auf das ›oder so‹ an«, blafft Al.
»Das ist ungefähr das Gleiche wie die Woche Urlaub
oder so
, die du und Doris ursprünglich angekündigt hattet. Anscheinend wird daraus eher ein Monat.«
»Na ja, wir wollten dich überraschen, und Doug kann sich in meiner Abwesenheit gut um den Laden kümmern. Der Doc hat mir gesagt, ich soll mir keinen Stress machen, Justin. Und da wir Herzprobleme in der Familie haben, muss ich mich wirklich ausruhen.«
»Du hast deinem Arzt gesagt, dass wir familiär belastet sind?«, fragt Justin.
»Ja, Dad ist an einem Herzanfall gestorben. Von wem sollte ich denn sonst reden?«
Justin schweigt.
»Außerdem hast du ja auch was davon – Doris richtet deine Wohnung toll her, und du wirst noch froh sein, dass wir geblieben sind. Weißt du, dass sie den Hundesalon ganz alleine renoviert hat?«
Justin sperrt die Augen auf.
»Ja, toll, nicht?« Al strahlt vor Stolz. »Also, wie viele von diesen Vorlesungen hältst du denn in Dublin? Vielleicht kommen wir mal mit, wenn du hinfliegst. Um zu sehen, wo unser Dad herkommt, weißt du.«
»Dad war aber aus Cork.«
»Oh. Hat er da noch Familie? Wir könnten auch da mal hinfahren und unsere Wurzeln suchen.«
»Keine schlechte Idee.« Justin denkt an seine Termine. »Ich hab noch ein paar Vorlesungen vor mir. Aber wahrscheinlich seid ihr so lange nicht hier.« Er mustert Al verstohlen. »Und nächste Woche könnt ihr nicht mitkommen, weil ich da Arbeit und Vergnügen miteinander verbinde und eine Verabredung mit Sarah habe.«
»Bist du echt scharf auf sie?«
Das Vokabular seines fast vierzigjährigen Bruders verblüfft Justin immer wieder von neuem. »Ob ich scharf auf sie bin?«, wiederholt er, gleichzeitig amüsiert und verwirrt.
Gute Frage. Eigentlich nicht, aber es ist irgendwie angenehm, mit ihr zusammenzusein. Ist das eine akzeptable Antwort?
»Hat sie dich mit ›Ihhch will daine Bluot!‹ geködert?«, kichert Al.
»O ja, das war unheimlich«, entgegnet Justin. »Sarah ist ja auch ein Vampir aus Transsilvanien. Komm, da vorn ist es, lass uns ein Stündchen Sport machen«, wechselt er das Thema. »Ich glaube nicht, dass Ausruhen das Beste für dich ist. Deshalb bist du doch in diesem Zustand.«
»
Eine Stunde?
Wo wir schon die ganze Zeit rennen?« Al explodiert beinahe. »Was willst du denn bei deinem Date
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